Das narrative Interview in der Praxis: Die Bedeutung der Interviewsituation und die Rolle der Beteiligten

Aufforderungen an Interviewte, im Rahmen von Erzählaufforderungen (und auch anderen, offenen Anfangspassagen) ausführlich zu erzählen, erwarten eigentlich Unmögliches (vgl. Hermanns 2010, S. 362f.). Sie legen an Interviewte die Erwartung an, innerhalb einer künstlichen Situation spontan Geschichten aus dem Leben zu erzählen – eine eigentlich unmögliche Anforderung (vgl. z.B. Bohnsack und Pfaff 2010, S. 36). Denn zunächst kennen Interviewte meist – wie auch in der vorliegenden Studie – den Fragenden nicht oder nur sehr flüchtig, er ist eine Fremde bzw. ein Fremder, die bzw. der sich für persönliche oder intime Erzählungen aus dem eigenen Leben interessiert (vgl. Fuchs-Heinritz 2009, S. 46f.). So verweist Hermanns (2010, S. 361ff.) auf die Bedeutung der Interviewsituation, in der „spezifische Aufgaben[1] bewältigt werden“ müssen: Den vagen „Vorgaben für die Interviewführung“ stehen ertragreiche Ziele für die Forschungsarbeit gegenüber („Dilemma der Vagtheit“[1], die nüchtern-distanzierte Haltung, die Interviewende haben und sich zudem nicht mit dem Gegenüber identifizieren sollten, kann sich als problematisch erweisen, wenn von den Interviewten erwartet wird, persönliche, vielleicht krisenbehaftete Erfahrungen und Erlebnisse zu schildern und diese Einblicke auch noch fremden Forschenden zu ermöglichen („Fairness-Dilemma“ [1], in gewisser Weise besteht ein Widerstreit zwischen Nähe und Distanz), als Forschende bzw. Forschender schließlich nicht all das Wissen preiszugeben, welches durch die intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand vielleicht vorliegt („Dilemma der Selbstpräsentation“[1]; ebd., S. 361). Dabei wird eine Beziehungsebene eröffnet, deren Ausgestaltung am Anfang des Interviews von Bedeutung für den gesamten Verlauf des Interviews ist und in der sich sowohl Interviewte als auch Interviewerinnen resp. Interviewer um wechselseitige Bedeutung bemühen (vgl. Bude 2010, S. 573). Dadurch können Hemmungen entstehen, auch wenn die Interviewsituation vermeintlich ‚entspannt' – etwa durch die Rahmenbedingungen – gestaltet wurde oder besser: zu gestalten versucht wurde, etwa durch ein Gespräch zum Kennenlernen, durch die Wahl eines Interviewortes, der von der bzw. dem Befragten ausgewählt wurde und dieser bzw. diesem nicht fremd ist.

Zudem schreiben Forschende und Beforschte sich gegenseitig Bedeutungen zu, sie interpretieren die Situation des Interviews in unterschiedlicher Weise (vgl. Rosenthal 2011, S. 43f.), nehmen sich unterschiedlich wahr (vgl. Hermanns 2010, S. 363). Es können Asymmetrien entstehen, da Befragte „Spielregeln und […] Verwendung der Ergebnisse“ bestimmen (Friebertshäuser 2009, S. 238). So können Faktoren wie etwa das Geschlecht bei spezifischen Interviewsituationen oder -themen Bedeutung erlangen – es ist etwas anderes, wenn von Frau zu Frau über sensible Themen des Frauseins oder der Frauenund Geschlechterrollen gesprochen wird, als wenn ein Mann diese Fragen anspricht, der möglicherweise als ‚Antagonist' für derartige Themen angesehen werden kann, gerade wenn ein Thema gesellschaftlich kritisch diskutiert, gar abgelehnt wird oder wenn die Interviewte das biographisch selbst erlebt hat, was Forschende möglicherweise nicht wissen können. Damit ist der Aspekt des ‚Diskurses' angesprochen, der bei jeder Interviewsituation eine Rolle spielt. Um am eben genannten Beispiel zu bleiben: Interviewt eine Frauenforscherin eine Frauenrechtlerin zu Themen der Gleichberechtigung, mag die Interviewte die Interviewerin als Gleichgesinnte oder sogar Verbündete empfinden.[5] Die hier benannten Schwierigkeiten innerhalb der Interviewsituation – und es gibt ihrer zahlreiche mehr – können sich latent äußern, ohne den Beteiligten wirklich ins Bewusstsein zu rücken. Sie können sich darüber hinaus situativ – etwa während des Interviews – auch als ein unterbewusst hemmendes Gefühl darstellen, z.B. bestimmte Passagen und Erfahrungen nicht teilen zu wollen; sie können aber auch manifest sein oder werden, wenn die interviewte Person durch eine bestimmte Situation oder die Rekonstruktion einer besonderen Geschichte das Gefühl erlangt, der Situation entfliehen zu wollen, sich zunehmend knapper äußert, körperlich angespannt wird. Dem können Forscherinnen und Forscher entgegen treten, indem sie um Verständnis bemüht sind und versuchen, „die richtige Balance“ zu finden zwischen Interesse, Aufmerksamkeit und Respekt, ohne „sich durch eigene inhaltliche Stellungnahmen selbst zu exponieren“ (Hermanns 2010, S. 363f.).

Aber nicht nur die Rahmenbedingungen der Interviewsituation sind bei der Interpretation transkribierten Interviewmaterials zu berücksichtigen. Jede und jeder Befragte hat einen bestimmten Fundus von Geschichten zum Erzählen parat, die leicht und sofort abrufbar sind. Manche werden vielleicht oft erzählt, weil sie ungewöhnliche, nicht alltägliche Situationen beschreiben, weil sie besonders lustig oder unterhaltsam sind, weil es sich um Erinnerungen handelt, die gerne mit anderen geteilt werden. Andere sind vielleicht ebenso relevant, werden aber ungerne ins Gedächtnis gerufen, geschweige denn erzählt, weil sie krisenhafte Erlebnisse beinhalten oder mit Schmerz, Trauer und Schamgefühlen verbunden sind. Andere Geschichten, die nicht konkret mit besonderen Ereignissen oder Situationen einhergegangen sind, weil sie z.B. ganz alltäglicher Natur sind und für Außenstehende vermeintlich uninteressant sind, müssen erst rekonstruiert werden, die Erinnerung muss erst hervorgerufen werden, was mitunter Zeit kosten kann – und das in einer Situation, in der Fremde in Erwartung einer Erzählung dieser Geschichten sind, somit also zusätzlich (latenter) Zeitdruck für Befragte entstehen kann.

Die Vielzahl von unterschiedlichen Erlebnissen, biographischen Verläufen und Ereignissen werden darüber hinaus nicht immer in genau gleicher Weise abgerufen wie etwa ein geschriebener Text, den man Wort für Wort nachliest. Vielmehr wird der Verlauf von Ereignissen innerhalb einer Geschichte immer anders formuliert, es wird unterschiedlich weit ausgeholt, mal werden viele, mal wenige und mitunter keine Details mit einbezogen, Relevanzsetzungen individuell vorgenommen (vgl. Hericks und Stelmaszyk 2010, S. 234). Dabei „verschieben sich die Strukturprinzipien, kommen andere Ereignisse in den Vordergrund der Erinnerung, werden andere vergessen“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 53; vgl. ebd., S. 162ff.) – Geschichten bilden sich insofern erst in dem Moment, in dem sie erzählt werden, sie werden im Zuge der Interviewinteraktion erzeugt (Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2010, S. 459) und fußen dabei auf der „Wahrnehmung und Beobachtung“ der erlebten Realität (ebd., S. 460). Denn „jede Erzählung persönlicher Erfahrungen [ist] per definitionem ein retrospektives Darstellungsverfahren“ (Schütze 1987, S. 25), in der die „Hierarchie der Wichtigkeit der einzelnen Erfahrungsgehalte und -aspekte angesichts des erst später möglichen Gesamtüberblicks und später gemachter Erfahrungen des betroffenen Informanten in der Zeit zwischen den ursprünglichen Ereignissen und dem Interviewzeitpunkt verändert hat“ (ebd., S. 26). Und sie können gleichzeitig „zu einer grundlegenden Neudefinition der eigenen Zukunft und zugleich der Vergangenheit führen“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 54; auch S. 203f.) – gerade, da Erzählungen so gestaltet werden, „dass der Zuhörer sie akzeptieren kann“ auf Basis von (vermuteten) „Kriterien für akzeptable Lebensweise und Lebensauffassung“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 55; vgl. auch Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2010, S. 457). Zudem: „Man weiß nie genau, wie das Ich von damals mit dem Ich von heute zusammenhängt“ (Liebau 2009, S. 48).

Die genannten Faktoren haben Konsequenzen für die Interpretation, in der also immer die Situation des Interviews und die in dieser speziellen Situation rekonstruierten Geschichten eine Rolle spielen. Da Interviews soziale Beziehungen sind, „deren Struktur und Qualität Einfluss auf die Ergebnisse“ ausüben, gilt es, diese in ihren Besonderheiten zu interpretieren und dabei zu hinterfragen, in welcher Weise Befragte und Fragende von der Situation tangiert werden (Friebertshäuser 2009, S. 238). Insofern sollten auch außerhalb der konkreten Interviewsituation – etwa bei der Interpretation – jene „Selbstverständlichkeiten in der Alltagswelt“, deren Infragestellung ‚ungewohnt' ist, da sie sich der Reflexion weitgehend entziehen – von Bourdieu als Doxa bezeichnet –, unbedingt thematisiert werden (Friebertshäuser 2009, S. 235ff.). Eine Reflexion dieser Selbstverständlichkeiten kann Rückschlüsse auf solche Denkmuster eröffnen, die unmittelbar verknüpft sind mit den Selbstverständnissen der Forscherinnen und Forscher, wodurch eine reflexive Auseinandersetzung die habituellen und feldspezifischen Strukturen der Erforschenden offenlegen können – bzw. durch die Reflexion von ihnen daselbst offengelegt werden (ebd.).

  • [1] Im Original kursiv
  • [2] Im Original kursiv
  • [3] Im Original kursiv
  • [4] Im Original kursiv
  • [5] Bezogen auf die vorliegende Studie hieße das: Da die Interviewten wussten, dass ich auch Musik als Unterrichtsfach im Rahmen der Lehrerausbildung studiert habe, könnten sie also vermuten, dass ich eine grundsätzlich positive Haltung zum Gegenstand und Fach Musik habe, die sich in einer größeren Offenheit gegenüber allen musikbezogenen Themen äußern könnte, was nicht so wäre, wenn ich selbst zur eigenen Bildungsgeschichte keinerlei Angaben gemacht oder ein anderes Fach studiert hätte und ggf. nüchterner oder gar kritischer gegenüber dem Fach Musik wäre (vgl. zum Thema Zugang zum Feld und Zugehörigkeit bestimmter Determinanten, die das Feld ausmachen Fuchs-Heinritz 2009, S. 237ff.)
 
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