Die dokumentarische Methode zur Auswertung narrativ angelegter Interviews
Im Anschluss an diese Überlegungen wird im Folgenden die zur Auswertung der empirischen Daten genutzte dokumentarische Methode und ihr mehrschrittiges Verfahren bezogen auf die zu analysierenden Interviews dargestellt. Die dokumentarische Methode wurde von Bohnsack „in kritischer Auseinandersetzung mit Harold Garfinkel […] und unter Rückgriff auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims“ entwickelt (Nohl 2009, S. 7f.). Daneben ist sie beeinflusst durch die Chicagoer Schule und die Ethnomethodologie (vgl. Bohnsack 2004, S. 211). Sie eignet sich besonders zur Interpretation von Gruppendiskussionen und narrativen Interviews (vgl. Bohnsack und Pfaff 2010, S. 35), aber auch für Bildanalyse und die Auswertung teilnehmender Beobachtung (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 274; Bohnsack et al. 2007b, S. 20ff.). Die dokumentarische Methode hat zum Ziel, interpretatorisch „Orientierungen und Erfahrungen zu rekonstruieren“, so dass „Aufschluss über die Handlungsorientierungen“ von Akteurinnen und Akteuren und ein „Zugang zur Handlungspraxis“ dieser möglich wird (Nohl 2009, S. 7f.). Orientierungsrahmen und habitualisierte Praktiken sind demnach zentraler „Gegenstand dokumentarischer Interpretation“ (Bohnsack und Pfaff 2010, S. 6). In Anlehnung an Mannheim wird „eine Beobachterperspektive, die zwar auf die Differenz der Sinnstruktur des beobachteten Handelns vom subjektiv gemeinten Sinns der Akteure zielt“, eröffnet, wobei „aber das Wissen der Akteure selbst die empirische Basis der Forschung“ bleibt (Bohnsack 2004, S. 212; vgl. auch Bohnsack und Pfaff 2010, S. 3f.). Dieses Wissen wird unterteilt in einmal reflexives, theoretisches Wissen, einmal in praktisches, inkorporiertes, von Mannheim als atheoretisches Wissen bezeichnet, welches „einen Strukturzusammenhang“ bildet, der für Akteurinnen und Akteure „handlungsleitend“, dabei aber „relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn des Handelns“ und somit also (quasi-)objektiv ist (vgl. Bohnsack 2004, S. 212): Es gilt, die „Wirklichkeit zu finden, die weder jenseits des Akteurswissens als objektiv definiert wird noch sich im subjektiv gemeinten Sinn der Akteure […] erschöpft“ (Nohl 2009, S. 50), womit eine „Überwindung dieser Dichotomisierung zwischen subjektivem und objektivem Sinn“ geleistet werden soll (ebd., S. 51). Entscheidend ist, so Bohnsack (2004, S. 212), dass die benannte „Struktur […] bei den Akteuren selbst wissensmäßig repräsentiert“ und abduktiv[1] „zur begrifflich-theoretischen Explikation zu bringen“ ist (ebd., S. 213; vgl. auch Bohnsack und Pfaff 2010, S. 4). Somit ermöglicht „die dokumentarische Methode einen Zugang zur (Prozess-)Struktur des Handelns, der sich der Perspektive der Akteure selbst entzieht“ (Bohnsack 2004, S. 213), dabei aber in ihnen angelegt ist – ganz wie im Habitus, der gleichsam „in der Praxis angeeignet wird und diese Praxis seinerseits hervorbringt“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 275). Etabliert hat sich die vereinfachte Formel Bohnsacks (2004, S. 218), „dass diese [i. e. die Beforschten, d. Verf.] eigentlich nicht wissen, was sie da alles wissen“ (vgl. auch Bohnsack und Pfaff 2010, S. 4). Das, was sich in der (strukturierten) Handlungspraxis zeigt, ist durch strukturierende Momente in den Akteurinnen und Akteuren angelegt.
Die Mannheim'sche Unterscheidung zwischen dem „immanenten Sinngehalt“ und dem „Dokumentsinn[2]“ (Nohl 2009, S. 8) „setzt einen Wechsel der Analyseeinstellung […] voraus“ (Bohnsack 2004, S. 213). Während der immanente Sinngehalt wörtliche oder explizite Schilderungen umfasst (vgl. Nohl 2009, S. 8), die in je bestimmter Weise und in eigenen Worten durch Interviewte erzählt werden (die Frage nach dem ‚Was' „die gesellschaftliche Realität in den Augen der Akteure ist[2]“ (Bohnsack 2004, S. 213; dies wird in der formulierenden Interpretation erfasst; vgl. Kap. 4.3.1), beschreibt der Dokumentsinn, wie die „berichtete Handlung konstruiert ist“, „in welchem Rahmen [2] das Thema […] abgehandelt wird“, „wie eine Problemstellung verarbeitet, d.h. in welchem Orientierungsrahmen ein Thema oder eine Problemstellung abgehandelt wird“ (Nohl 2009, S. 8f.) oder: wie Realität „in der Praxis hergestellt wird“[5], was Rückschlüsse auf den „modus operandi“[2] und damit den der Praxis zugrunde liegenden Habitus zulässt (Bohnsack 2004, S. 213; das ‚Wie' wird mit Hilfe der reflektierenden Interpretation rekonstruiert wird; vgl. Kap. 4.3.2). Immanenter Sinngehalt und Dokumentsinn sind dabei aber nur analytisch voneinander trennbar (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 276). Gerade in Gruppendiskussionen zeigen sich gemeinsame Orientierungsrahmen dergestalt, dass sich Diskutierende ‚blind verstehen' – und dabei das Verstehen nicht explizieren –, ohne bestimmte Erfahrungsund Denkmuster explizieren zu müssen, durch die Forscherin oder den Forscher aber herausgearbeitet werden müssen um zu verstehen, „welche für die Weltanschauung der Gruppe zentrale Orientierungsstruktur“ besteht (Bohnsack 2004, S. 214f.; zum gegenseitigen Verstehen auch S. 218). Es würde ja auch „unnötig aufhalten“, wenn jedwedes Handlungswissen immer akribisch expliziert werden müsste (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 276). Wie erhalten Außenstehende – Forscherinnen und Forscher – nun Einblicke in das atheoretische Wissen bzw. Erfahrungswissen? Dieses „findet sich vorzugsweise in konkreten Beschreibungen oder Erzählungen, also in detaillierten Darstellungen der Handlungspraxis“ (Bohnsack 2004, S. 216) – insofern dies ein Argument für das Generieren von Erzählungen mittels narrativer Interviews zur Erschließung des dokumentarischen Sinns ist.
Dabei haben sog. Fokussierungsmetaphern eine besondere Bedeutung. Sie können als „Schlüsselstellen“ der Auswertung betrachtet werden, da durch ihre metaphorische Aufgeladenheit „Orientierungen besonders gut zum Ausdruck kommen“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 105). Neben metaphorischen Hinweisen lassen diese sich dadurch identifizieren, dass sie sich „formal augenfällig vom Rest des Diskurses unterscheiden“[7], etwa durch längere Pausen, Textsortenwechsel, die durch die formale Textinterpretation ersichtlich werden „oder durch die besonders lange und ausführliche Behandlung eines Themas“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 287).[8]
Ziel dokumentarischer Interpretation ist, „Typologien zu erstellen, die die Variationsbreite der rekonstruierten Orientierungen von Akteuren widerspiegeln, und so zu Verallgemeinerungen zu gelangen“ (Kleemann et al. 2009, S. 164f.). Die Methodenliteratur unterscheidet für die dokumentarische Methode zwei unterschiedliche Wege zur Gewinnung mehrdimensionaler Typen: einerseits eine „themenbezogene fallvergleichende Abstraktion der […] rekonstruierten Orientierungsrahmen“ mittels sinngenetischer Typenbildung, andererseits eine „themenübergreifende fallvergleichende Abstraktion unter Einbeziehung weiteren Kontextwissens“, das sich beispielsweise aus Zusammenhängen sozialer Strukturen ergibt, welche durch die soziogenetische Typenbildung erreicht werden kann (Kleemann et al. 2009, S. 164ff.).
Die dokumentarische Methode hat in dieser Studie das Ziel, die biographischen Implikationen einer individuellen Biographie angehender Musiklehrerinnen und -lehrer aufzuzeigen, die einerseits auf bestimmte biographische Verläufe und Sozialisationsprozesse verweisen, aber dabei auch biographisch-relevante Aspekte individueller Biographien begreifbar zu machen, indem Habitusstrukturen rekonstruiert werden. Die für die dokumentarische Methode relevanten und aufeinander aufbauenden Arbeitsschritte werden auf den folgenden Seiten beschrieben.
- [1] Die Abduktion, zurückgehend auf die durch Peirce eingeführte „Methodologie des "abduktiven Schlusses"“, bezeichnet „einen Weg jenseits induktiver Verallgemeinerungssicherheit und deduktiver Ableitungsgewissheit“, sie „vermutet bloß, dass etwas der Fall sein könnte […], um eine neue Idee einzuführen oder ein fremdes Phänomen zu verstehen“, während Deduktion logisch beweist und Induktion „empirische Evidenz“ nachweist (Bude 2010, S. 571). Sie hat Innovationspotenzial, da sie hilft, „Neues auf logisch und methodisch geordnetem Weg finden zu können“ (Reichertz 2010, S. 277) und damit Forscherinnen und Forscher überraschen kann, wenn „Merkmalskombinationen [… entdeckt werden, d. Verf.], für die sich im bereits existierenden Wissensvorratslager keine entsprechende Erklärung oder Regel findet“, sondern diese neuen Regeln „erst noch zu (er)finden“ sind – mit dem Entschluss, „der bewährten Sicht der Dinge nicht mehr zu folgen“ (ebd., S. 280f., Kursivsetzung im Original; vgl. zur Herbeiführung der Abduktion auch ebd. und Rosenthal 2011)
- [2] Im Original kursiv
- [3] Im Original kursiv
- [4] Im Original kursiv
- [5] Im Original enthält das Zitat Kursivsetzungen
- [6] Im Original kursiv
- [7] Im Original enthält das Zitat fett gedruckte Teile
- [8] Przyborski und Wohlrab-Saar (2010) beziehen sich in ihrer Argumentation auf Gruppendiskussionsverfahren, in deren Dynamik sich Fokussierungen freilich andersartig äußern als bei narrativen Interviews, gleichwohl sind die benannten Indikatoren zur Identifikation von Fokussierungsmetaphern auch auf narrative Interviews anwendbar