Abitur auf einer Erwachsenenschule
Die Rekonstruktion eines Gegenhorizonts zur Tätigkeit im musikkaufmännischen Bereich (vgl. w. o.), der als biographische Enaktierung angesehen werden kann, resultiert aus der Interpretation weniger, von Markus im Interview aneinandergereihter Tatsachen – während die Gründe, die zu Markus' Lehre führten, anhand langer Erzählungen präsentiert werden. Mit der Überlegung, dem Wunsch oder dem Bestreben – eine genaue Aussage lässt sich an dieser Stelle nicht machen –, studieren zu wollen, war die Notwendigkeit verbunden, das Abitur nachzuholen. Innerhalb dieses Orientierungsprozesses lassen sich zwei Gegenhorizonte auf-zeigen, die den Entscheidungsprozess hinsichtlich der Ortswahl des Abiturs auf dem zweiten Bildungsweg letztlich bestimmten. Es bestand für Markus zunächst die Möglichkeit, sein Abitur in Ostdeutschland, in A-Stadt, nachzuholen. Hier wäre er in einer ‚Plattenbauschule' untergekommen, der „n zonendirektor mitm sächsischen akzent“ vorstand. Da dieser aber von Markus nach einem Gespräch als „mega arschloch“ bezeichnet wird, lässt sich vermuten, dass Markus diesem negativen Horizont ausweichen wollte; mittels Internetrecherche stieß er dann auf eine Schule in K-Stadt, die sich, ganz anders als die ‚Plattenbauschule', in einem weitaus attraktiveren Gebäude befand. Diese Orientierung lässt sich als positiver Horizont rekonstruieren, insofern Markus bei der Schulwahl sowohl bau(ten) spezifische als auch – zumindest beim negativen Horizont – personelle Gründe bewegten, sein Abitur in K-Stadt nachzumachen. Interessant an dieser Stelle ist auch, dass Markus keine Aussagen dazu macht, wie es ihm gelang, einen Platz auf der Schule zu erhalten, lediglich die Aussage „ja dann komm ich da doch hin“ bezeugt die institutionelle Entscheidung und den örtlichen Wechsel; sie verweist dabei auf eine persönlich-motivierte Enaktierung, die durch eigenes Handeln, möglicherweise Selbstwirksamkeit, erklärt werden kann.
Die Schilderungen der Zeit auf der Erwachsenenschule, an der Markus sein Abitur nachholte, beziehen sich auf drei Erfahrungsbereiche. Zunächst erzählt Markus von dem Weg zur Schule, den er mit dem Auto zurücklegte, auf dem er täglich Kultursendungen hörte und oft an musikalischen Quizsendungen teilnahm, die morgens im Radio übertragen wurden. Hier konnte er mehrfach Preise gewinnen, da er in Musikgeschichte durch seine Ausbildung „doch ziemlich fit“ war, weil er die Historie „von uralt bis ganz neu“ kennengelernt hatte. Insofern lässt sich konstatieren, dass ihm sein musikalisches Wissen hier, als inkorporiertes Kulturkapital, nützlich war und sich in seiner Bedeutung für ihn bestätigte bzw. habitualisierte und demnach Konstanz verlieht („das hört ja eigentlich auch nich auf“). Zweitens beschreibt Markus die Lehrkräfte an der Schule als ‚Chaoten', die an normalen Schulen nicht zurecht kämen. Obschon seine Geringschätzung der Lehrerschaft gegenüber deutlich wird und er von einer Musiklehrerin spricht, die auf „jedenfall mega einen an der waffel“ hatte, bezeichnet er diese mittlerweile als gute Freundin, die er nicht nur in einem Chor – der ebenfalls geringgeschätzt wird („kack m* #gesangs# chor“) – vermutlich als Sänger unterstützte, sondern deren Familie er auch kennenlernte. Als Begründung, warum er in diesem Chor sang, benennt er, er hätte „halt auch nich so viel zu tun“ gehabt (obgleich er einige Jahre zuvor sein Abitur, wenn auch nur knapp, nicht bestanden hatte), deutet an, dass seine Orientierung hier wieder vornehmlich sozialer Natur war und er weniger an der Qualität des Chors als vielmehr an der Person orientiert war: ‚Einen an der Waffel zu haben', chaotisch zu sein oder ihn schulisch nicht besonders zu fordern sind in dieser Lesart keine Gründe, von denen sich Markus in seiner Orientierung hat beeinflussen lassen. Drittens war er in weiteren Gesangsensembles und in einem Orchester in K-Stadt tätig.