Die interpretative Wende in der Policy-Forschung

Das folgende Kapitel führt in die Entstehung und Prämissen der Policy-Analyse sowie ihre Weiterentwicklung durch die Ansätze einer als post-positivistisch, interpretativ oder argumentativ bezeichneten Wende ein (1.1, 1.2). Zu diesem Zweck werden die Grundlagen des interpretativen Paradigmas in der Soziologie (1.3) sowie sozialkonstruktivistische Parallelen in der Soziologie sozialer Probleme (1.4) vorgestellt. Des Weiteren werden eine Begriffsklärung vorgenommen, die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der interpretativen Policy-Analyse beleuchtet (1.5) und die Gütekriterien entsprechender Forschung mit denen der traditionellen Policy-Analyse kontrastiert (1.6).

Einleitung

Der Begriff „Policy“ benennt die politischen Inhalte, die in Gesetzen, Verordnungen, Programmen und Einzelentscheidungen zum Ausdruck kommen (Schubert und Bandelow 2003, S. 4 f.). Im engeren Sinne bezeichnet policy-making das Handeln von Regierungen und interund supranationalen Organisationen mit Anspruch auf gesamtgesellschaftlich verbindliche Regelung (Schmidt 2003, S. 261). Die Bezeichnungen Policyoder Politikfeld-Analyse stehen im Deutschen sowohl für eine beschreibend-erklärende als auch für eine konkret politikberatende Variante der Policy-Forschung. Im Englischen hingegen findet der Begriff Policy Science für die präskriptiv-normative und der Begriff Policy Analysis für die beschreibenderklärende Variante Verwendung (Héritier 1993, S. 9).

Aus Sicht der traditionellen Policy-Analyse stellt sich Politik als Bearbeitung von Problemen dar (Saretzki 2003, S. 431).[1] Diese Auffassung von Regierungen als „a machinery for solving problems“ (Colebatch 2005, S. 17) wird auch durch das Modell des Politikzyklus widergespiegelt, der den politischen Prozess von der Problemdefinition bis zur Implementation und ggf. Evaluation in mehrere nacheinander ablaufende Phasen teilt. Allerdings greift seit den 1990er Jahren die Erkenntnis um sich, dass die Wahrnehmung von Problemen und die Unterbreitung von Lösungsvorschlägen nicht als ein einfacher objektiver Mechanismus ablaufen. Gründe liegen in der Komplexität der Herausforderungen, in der Unschärfe und Subjektivität von Interpretationen sowie in der Veränderung der Politikinhalte durch ihre fortwährende Diskussion (Blatter et al. 2007, S. 22). Die Notwendigkeit einer Neufassung des Gegenstands der Policy-Analyse folgte somit auch aus einem gewandelten Verständnis von politischen Entscheidungen: Frühe, steuerungstheoretische Annahmen waren noch davon ausgegangen, dass eindeutige Ziele existierten, angemessene Kausaltheorien über Ursache-Wirkungszusammenhänge vorlägen sowie ausreichende Durchführungsstrukturen vorhanden seien, und dass die Unterstützung durch Interessengruppen gesichert sei (Héritier 1993, S. 11). Policy-Probleme sind jedoch aus heutiger Sicht komplexer in dem Sinne, dass sie nicht nur in der angemessenen Lösung umstritten sind, sondern auch dahingehend, worin ein Problem eigentlich besteht. Es handelt sich bei Policy-Prozessen demnach nicht um rationale Verläufe, in denen Wissen generiert, in Policy-Wissen transformiert und in problemadäquate Entscheidungen überführt werden kann. Stattdessen wird der Einfluss der sprachlichen Vermittlung und der milieu-, kulturund rollenspezifischen Deutung und Verarbeitung von Informationen hervorgehoben und die Glaubwürdigkeit und das rhetorische Geschick in seiner Bedeutung für den Policy-Prozess betont (Blatter et al. 2007, S. 24). Generell ist mit diesen Ansätzen eine Ausdifferenzierung qualitativer Forschung verbunden, die sich in ihrer interpretativen Variante auf die wirklichkeitskonstituierende Dimension von Ideen, Wissen, Deutungsmustern, frames, Interpretationen, Argumenten oder Diskursen konzentriert.

In älteren Untersuchungen wurden die Handlungen der politischen Akteure häufig im Sinne von Macht und Interesse diskutiert. Das Argument der interpretativen Ansätze lautet nun nicht, dass es kein strategisches Handeln gebe, sondern dass die Meinungsunterschiede den Streit zu mehr machen als einem einfachen Interessenkonflikt (Hajer 2004, S. 272). Die Ansätze distanzieren sich damit von Rational-Choice-Theorien ebenso wie von der dominierenden institutionalistischen Policy-Analyse. Der Kerngedanke besteht für Nullmeier (2001, S. 288) darin, die Interpretationen und Kausalannahmen bei der Konstruktion und politischen Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme zu erfassen. Die Schlüsselvokabeln seien Bedeutung, Interpretation und die politisch-diskursive Konstitution von Wirklichkeiten. Politikverläufe lassen sich in diesem Verständnis nur als Interpretationsprozesse und Interpretationskämpfe verstehen.

Es schien jedoch lange keine Einigung darüber zu bestehen, wie diese Umorientierung am besten zu bezeichnen sei, ob als konstruktivistisch, post-positivistisch, als argumentative turn (Fischer und Forester 1993a), ideational turn (Blyth 1997) oder interpretive turn (Healy 1986; Yanow 1995). Zudem vertreten die Ansätze zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Einsatz wissenschaftlicher Verfahren zur Unterstützung der interpretativen Rekonstruktionsarbeit (vgl. Schneider und Janning 2006, S. 169). Ferner fallen viele ideenbezogene Arbeiten des ideational turn durch ihren konventionelleren und variablenbasierten Zugang aus der Riege der in diesem Lehrbuch vorgestellten Ansätze heraus (siehe ausgiebig 2.2). In dieser Einführung werden die Bezeichnungen „post-positivistisch“ oder „interpretativ“ als Oberbegriffe genutzt, während der argumentative turn als eine Ausprägung dieses Paradigmas verstanden wird. Dies scheint sich auch mit der Selbsteinschätzung oder zumindest forschungsstrategischen Ausrichtung der Autorinnen und Autoren zu decken, deren internationale Konferenzen die Interpretive Policy Analysis (IPA) im Titel tragen. Dieser Bezeichnung wurde daher auch beim Titel des vorliegenden Lehrbuchs gefolgt. Im Rahmen des transnationalen IPANetzwerks offenbart sich jedoch zugleich die große Bandbreite der unter diesem Dach vereinten Ansätze. So versammeln sich unter der Bezeichnung der interpretativen Policy-Analyse sowohl solche post-positivistischen Forscherinnen und Forscher, die einer interpretativ-hermeneutischen Strömung zuzuordnen sind – die also die Konstruktionsund Deutungsleistungen von Akteuren in den Mittelpunkt stellen – als auch poststrukturalistische Autorinnen und Autoren, die in Anlehnung an Foucault beleuchten, wie Subjekte überhaupt erst durch den Diskurs konstituiert werden (vgl. Fischer 2003, S. 38, siehe ausgiebig Abschn. 1.5 und 4). Dementsprechend wäre die Bezeichnung als „post-positivistisch“ eigentlich ein passenderer, umfassenderer Oberbegriff.

Zusammengehalten wird die interpretative Policy-Analyse durch eine gemeinsame Perspektive, die auf zwei Grundgedanken beruht: Die soziale und politische Wirklichkeit ist sozial und diskursiv konstruiert und Politik ist ein Kampf um Bedeutung – a struggle over meaning oder a struggle over ideas. Das geteilte Anliegen, die verdeckte politische Dimension scheinbar neutraler Expertenentscheidungen, technischer Problemlösungen und Sachzwänge herauszuarbeiten, vermag sehr unterschiedliche Strömungen unter dem Dach der interpretativen Policy-Analyse zu vereinen (Braun 2014, S. 79, 84).

  • [1] Dies mag insofern überspitzt sein, als sich die Policy-Analyse ebenso für die Frage interessiert, „[w]hat governments do, why they do it and what difference it makes“ (Dye 1976), und in der beschreibend-erklärenden Variante nach den Ursachen für bestimmte Entscheidungen fragt
 
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