Bedeutung der Soziologie sozialer Probleme für die post-positivistische Policy-Analyse
Trotz dieser erkenntnistheoretischen Parallelen und dem geteilten Interesse an der sozialen und diskursiven Konstruktion von Problemen hat die post-positivistische Policy-Analyse die Arbeiten aus der Soziologie sozialer Probleme in überraschend geringem Maße rezipiert (für eine Ausnahme siehe Fischer 2003). Dies mag zum einen daran liegen, dass die Arbeiten von Blumer (1971) und Berger und Luckmann (1969) als nicht kategorienreich genug gelten, „um fruchtbare politologische Arbeiten anzuleiten“ (Nullmeier 1997, S. 130). Sie analysierten vielmehr trotz der Betonung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit in erster Linie den Wissenshorizont aus der Perspektive eines einzelnen Gesellschaftsmitglieds (Keller 1999). Während die interpretative Soziologie oftmals eines Reduktionismus auf die Mikro-Ebene gescholten wird (Allen 1997), hebt die gleichnamige Richtung in der Policy-Forschung weniger auf die Sinnkonstitution des Individuums als auf die Wissensgenerierung kollektiver Akteure ab, ohne diese Abgrenzung zur Nachbardisziplin jedoch ausreichend zu thematisieren (Nullmeier 1997, S. 130). Vor allem auch zum zurückhaltenden Umgang mit Bewertungen im Dienste einer theoretischen Konsistenz (wie bei Ibarra und Kitsuse 1993), von Colin Hay (2002, S. 246) in einem anderem Kontext als „Schweigegelöbnis“ bezeichnet, besteht ein Kontrast zur interpretativen Policy-Analyse. Deren Autorinnen und Autoren widersprechen der traditionellen Policy-Analyse insofern, als sie anzweifeln, dass „Fakten“ und „Werte“ in der Beurteilung von Policies getrennt werden könnten. Die interpretative Policy-Analyse geht hingegen davon aus, dass „Fakten“ nicht nur theorieabhängig sondern auch kontext-spezifisch erzeugt und damit politisch sind. Dementsprechend gibt es keine neutralen Fakten, die Konflikte „entscheiden“ könnten, da „Fakten“ nicht unabhängig von interpretativen Linsen existierten (Gottweis 2006, S. 463). Dies bedeutet, dass die sich so verstehende Policy-Analyse selbst nicht wertfrei sein kann. Sie will es aber auch nicht sein.
Um sich vom potenziellen Werte-Relativismus einiger konstruktivistischer Arbeiten zu distanzieren, versucht Frank Fischer den Einbezug der „realen“ Welt in die Analyse zu legitimieren. Die Umwelt schränke die Zahl plausibler Interpretationen ein: „While the possibility of multiple interpretations remains, there are thus boundaries or limits to what can count. At minimum, an interpretation that bears no plausible relationship to the object-world has to be rejected“ (Fischer 1998, S. 139). Und an anderer Stelle führen Fischer und Forester (1993b, S. 3) aus: „We should be more suspicious than ever of policy arguments that cannot meet public tests of evidence. If we cannot distinguish policy argument from sales talk, we should consider it propaganda undeserving of the name ‚analysis'.“ Jedoch bleiben die Autoren die Antwort schuldig, wie ein solches Überprüfen der Argumente an der „empirischen Realität“ aussehen soll. An anderer Stelle stellen sie schließlich selbst fest, dass Phänomene oder empirische Stimuli nicht linear in eine „richtige“ Interpretation übertragen werden können. Später hat Fischer (1998, S. 141) die Rolle der Forschung dahingehend präzisiert, dass es ihre Aufgabe sei, die normativen Konflikte aufzudecken, die sich hinter oftmals gleichermaßen plausiblen Interpretationen eines abstrakten Ziels verbergen. Die von Nullmeier (1997, S. 134) für das interpretative Paradigma formulierten theoretischen Schwierigkeiten werden jedoch auch von vielen Autorinnen und Autoren des argumentative turn nicht überwunden: „Wie limitiert ein interpretatives Theorieprogramm den Möglichkeitsraum, wie zieht es die Grenze zwischen alternativer Interpretation und Wahngebilde, wie verhält es sich zur Behauptung, daß man die Welt nur verschieden interpretieren oder über sie nur anders reden müsse, um sie zu verändern?“ (Nullmeier 1997, S. 134).