Die Wissenspolitologie als deutscher Debattenbeitrag

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Mit dem wissenspolitologischen Ansatz haben Frank Nullmeier (1993) und Friedbert Rüb (Nullmeier und Rüb 1993) den wohl bedeutendsten deutschen Beitrag zur interpretativen Policy-Forschung beigesteuert. Im Zentrum wissenspolitologischer Untersuchungen steht der Versuch, mittels verschiedener, vor allem qualitativer Techniken den Wandel von handlungsleitenden Wissensbeständen zu rekonstruieren und dadurch den Wandel einzelner Policies zu erklären (Rüb 2006, S. 345, für das Folgende siehe auch Münch 2010, S. 98–102). Veränderungen von Policies (Inhalten, Programmen) erscheinen der Wissenspolitologie als Veränderungen in Wissenssystemen, die durch kommunikative Interaktion entwickelt werden (Heinelt und Lamping 2015, S. 9–19). Politische Handlungsalternativen werden dann umgesetzt, wenn sie die größte argumentativ-rhetorische Unterstützung innerhalb von Wissenssystemen mobilisieren können. Im Rahmen des wissenspolitologischen Ansatzes kann auch nach sich langsam ändernden Deutungsmustern gefragt werden sowie nach Ablagerungen sich historisch erstreckender Interpretationskämpfe, die das Wissen von Akteuren und damit politische Entscheidungen beeinflussen (Kerchner 2006, S. 41).

Politische Entscheidungen und Wandel werden weder als Ergebnis einer Liste kausal wirkender Faktoren verstanden, noch als funktionalistisch abgeleitete Notwendigkeiten. Der wissenspolitologische Ansatz besitzt damit eine Nähe zu denjenigen interpretativen Konzepten, in denen Wissen bzw. wissensund erfahrungsbasierten Wirklichkeiten keine ontologische Wahrheitsqualität zugesprochen wird, sondern diese als Wirklichkeitskonstrukte betrachtet werden. Von verschiedenen Autoren (u. a. Schmid und Straßheim 2003) wird der wissenspolitologische Zugang daher auch in einem Atemzug mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen genannt:

„In einer allmählichen Ablösung von der konzeptionellen Bindung an die dominierenden strukturalistischen und funktionalistischen Modelle fand eine Hinwendung der Politikanalyse zu Verfahren statt, die im weitesten Sinne dem Sozialkonstruktivismus bzw. der Wissenssoziologie (…) und dem ‚interpretativen Paradigma' (…) zuzuordnen sind“ (Pieper 2006, S. 274).[1]

Der wissenspolitologische Ansatz übernimmt von Berger und Luckmanns Wissenssoziologie „Grundgedanken zur sozialen Wirklichkeitskonstruktion und zur Bedeutung von Institutionen“ (Nullmeier 1997, S. 114). Die hermeneutische Wissenssoziologie in Anschluss an Berger und Luckmann konzentriert sich jedoch auf die Untersuchung der Wissensbestände individueller Akteure in ihren alltagspraktischen, privaten oder professionellen Handlungskontexten (Keller 2005b, S. 14). Während in der Wissenssoziologie Wissen als „die Form des Sinns, den wir mit anderen teilen“, definiert wird (Hitzler 2007: Abs. 23), ist Wissen im wissenspolitologischen Verständnis zudem vor allem wählbar. Anstatt wie in traditionelleren Ansätzen (wissenschaftliches) Wissen und Politik starr gegenüber zu stellen und den instrumentellen Einsatz von wissenschaftlichem Wissen zu kritisieren, versteht der wissenspolitologische Ansatz den Begriff Wissen allgemeiner als Deutungsmuster, mit denen Annahmen über die Wirklichkeit gemacht werden, die dann politisch handlungsleitend werden (Nullmeier 1993, S. 181). „Politik lässt sich weder auf einen von Geltungsfragen unabhängigen Interessenund Machtkonflikt reduzieren, noch lassen sich (wissenschaftliche) Debatten als Ausdruck einer rein an Geltungsfragen orientierten interessenund machtfreien Sphäre verständlich machen“ (Nullmeier und Rüb 1993, S. 26).

Die Wissenspolitologie arbeitet mit einem weit gefassten Wissensbegriff, der sowohl normatives als auch deskriptives, implizites wie explizites Wissen einbezieht und gemäß seines interpretativen Zugangs keine vorgängigen Wahrheitsan- sprüche an den Geltungscharakter eines Wissens jenseits des Fürwahrhaltens stellt (Nullmeier 1993, S. 182). Mit Karl Mannheims Wissenssoziologie hat der wissenspolitologische Analyserahmen somit gemein, nicht wie eine Ideologienlehre auf die Entlarvung von Täuschungen gerichtet zu sein (Rüb 2006, S. 348).

Die Wissenspolitologie geht davon aus, dass politische Institutionen geronnenes, sedimentiertes Wissen über eine angemessene Form der Bearbeitung von spezifischen gesellschaftlichen Sachverhalten sind, die sich in einem konkreten Bestand an Regeln und Verfahren niederschlagen, an dem die gesellschaftlichen Akteure ihr Handeln strukturieren (Rüb 2006, S. 347). Aus interpretativer Sicht fließen diese institutionellen Zwänge und Chancen jedoch nur als akteurseigene Interpretationsleistungen in das politische Handeln ein. Handlungsleitend sind demnach nicht die „tatsächlichen“ Machtressourcen, sondern das Wissen des Akteurs über seine Ressourcen und deren Verfügbarkeit (Nullmeier 1993, S. 176).

Das Handeln der Akteure, ihr Kampf um die Durchsetzung ihrer Deutungen bzw. um die Formulierung von Problemdefinitionen, Verantwortlichkeiten, Handlungsstrategien steht im Mittelpunkt des wissenspolitologischen Interesses. Ihr Untersuchungsterrain bilden die politischen Arenen, in denen wissensbasierte Koalitionsbildungen und Vernetzungen stattfinden (Pieper 2006, S. 275). Im wissenspolitologischen Vokabular wird das wählbare Wissen auf „Wissensmärkten“ – auch in diesen ökonomischen Kategorien besteht die Nähe zu Karl Mannheims Wissenssoziologie – gehandelt, auf denen verschiedene Anbieter konkurrieren (beispielsweise Parteien, Organisationen, Institutionen), die wiederum interne Wissensmärkte ausbilden. Auf diesen Wissensmärkten grenzen sich einzelne Deutungsansprüche gegeneinander ab, indem sie sich gegenseitig die Geltung absprechen, zwischen unterschiedlichen Wissensarten differenzieren und sogar Wissenshierarchien ausbilden (Schneider und Janning 2006, S. 99). Das Wissensangebot umfasst sowohl lebensweltliches als auch wissenschaftliches und weltanschauliches Wissen, wobei diesen Angebotsformen höchst unterschiedliche Legitimität zugesprochen wird (Nullmeier und Rüb 1993, S. 30). Auf Angebotswie auf Nachfragerseite können sich Monopole, Oligopole und Polypole ausbilden (Nullmeier 1993, S. 183).

Die Fähigkeit von Policy-Akteuren, (…) feldübergreifende Debatten zu initiieren oder sich ihnen zu verweigern, hängt von den wissensrelevanten Ressourcen der Akteure in Wissensmärkten ab und von ihrem Vermögen, die eigene Deutungshoheit zu verteidigen und den Wirkungsbereich in Wissensmärkten gegenüber Diskurseinflüssen von außen abzuschotten. (Schneider und Janning 2006, S. 100)

Im Gegensatzzuanderen Formender Diskursanalysestehtinder Politikwissenschaft weniger die Sprachproduktion als solche, sondern eher die Produktion und Wir-kung von politisch relevanten Deutungsmustern innerhalb öffentlicher Debatten im Zentrum des Interesses. In diesem Verständnis werden Debatten jedoch nicht nur geführt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und damit Zustimmung zu organisieren. Die wissenspolitologischen Arbeiten gehen über die Untersuchung strategischer Kommunikation an der Schnittstelle von Politik und Medien hinaus. Vielmehr interessieren die handlungsleitenden Orientierungen und Werte der politischen Akteure (Lepperhoff 2006, S. 252).

Wissenspolitologische Arbeiten analysieren zudem die Rolle von sozialwissenschaftlichem Wissen bei der Konstruktion von politischen Notwendigkeiten, die als alternativlos gelten. Handelt es sich um Möglichkeiten erweiterndes Wissen, weist das sozialwissenschaftliche Wissen auf Grenzen des Handelns hin oder zwingt es in eine notwendig einzuschlagende Richtung (Nullmeier 2001, S. 295)? Die Aufgabe für wissenspolitologische Arbeiten besteht darin, anhand von Texten unterschiedliche Wissensformen zu rekonstruieren, zu typologisieren und bestimmten Akteuren zuzuordnen. Dabei unterscheidet Rüb (2006, S. 348–349) zwei Grundtypen des Wissens: das deskriptiv-ontologische und das normativ-praktische Wissen. Das deskriptiv-ontologische Wissen bezieht sich auf das So-Sein der Welt. Darunter fällt das „Zukunftswissen“, das mit Wahrscheinlichkeitsaussagen, Risikoanalysen und Prognosen arbeitet. Die Rekonstruktion solcher Wissensbestände legt zugrundeliegende Ausgangsprämissen offen, prüft deren Plausibilität und untersucht, mit welchen davon abgeleiteten Handlungsoptionen das jeweilige Zukunftswissen kausal verkoppelt ist. Das „Vergangenheitswissen“ ist schwer und oft nur durch externe Schocks oder Krisen änderbar und bestimmt dadurch die Gegenwart. Bei dieser Dimension besteht die Aufgabe darin, die unveränderten Bestandteile von Wissen über längere Zeiträume hinweg zu rekonstruieren und Begründungen für Konstanz oder Variation heraus zu präparieren. Das „Gegenwartswissen“ schließlich, das sich auch als Expertenwissen äußert, ist häufig in Notwendigkeitsargumenten eingebettet und hat in der Regel die Struktur von kau- salen Determinismen.

Der zweite Grundtyp ist das normativ-praktische Wissen, das wiederum in Handlungsorientierungen basierend auf Willenskonstruktionen (Präferenzen, Wünsche) und solche auf Basis von Sollenskonstruktionen (Konventionen, Normen) differenziert wird (Rüb 2006, S. 350). Aus streng konstruktivistischer Sicht ist diese Unterscheidung zwischen deskriptivem und normativem Wissen jedoch insofern problematisch, als die Frage, was beispielsweise problematisiert wird, nicht von der Frage getrennt werden kann, wie, also mit welchen normativen Untertönen, etwas problematisiert wird, und Fakten und Werte nicht getrennt werden können.

Forschungsbeispiel

Mit dem Gründungstext der Wissenspolitologie versuchten Frank Nullmeier und Friedbert Rüb 1993 den Wandel der deutschen Rentenpolitik über einen Zeitraum von 15 Jahren zu erklären. Dabei rekonstruieren sie in einem ersten Schritt Policy-Prinzipien aus Gesetzestexten, ministeriellen Begründungen, Parteiprogrammen und Stellungnahmen und weisen diese bestimmten Akteuren zu: Wer hielt mit welchen Begründungen sein Wissen konstant, wer veränderte mit welcher Begründung sein Wissen, welche Akteure haben sich durchgesetzt?

Entscheidend waren Änderungen im Bereich des normativ-praktischen Wissens, das zu einer neuen Vereinheitlichung und damit zu einer Schließung bei der Anerkennung, Auslegung und Reformulierung von Policy-Prinzipien geführt hat. Zentral war zudem, dass sich die relevanten Akteure auf Notwendigkeitskonstruktionen einigten und daraus spezifische Maßnahmen für die langfristige Stabilisierung der Rentenfinanzen ableiteten. (Rüb 2006, S. 352)

Neben der Textanalyse kamen teilnehmende Beobachtung und Interviews zum Einsatz. Zudem wurden die Argumentationsstrukturen einzelner Debatten nachgezeichnet und beleuchtet, welche Reformideen einflusslos blieben (ebd.).

Kritik

An der Wissenspolitologie ist kritisiert worden, dass sie die Frage aus den Augen verloren habe, wer Nachfrager des Wissens sei: „Politik hat die Aufgabe, bei anderen Wissen herzustellen, sie also glauben zu machen, was die Politik glaubt und so Unterstützung zu generieren“ (Rüb 2006, S. 351). Als weitere Schwachstelle des Ansatzes nennt Rüb (2006, S. 351), dass das framing, das an einem Sachverhalt bestimmte Aspekte hervorhebt und andere ausblendet, bestimmte kausale Zusammenhänge betont und/oder mit bestimmten ethischen Fragen verbindet, unterbelichtet bleibe (Rüb 2006, S. 351, zu framing siehe 3.5). Außerdem vernachlässige die Wissenspolitologie den Gebrauch von Symbolen, die Wissen mit emotionalen und kognitiven Aspekten verbinden, Geschichten, die ein Ereignis in bestimmte Erzählstrukturen einbauen, sowie den selektiven Umgang mit Zahlen und Daten – allesamt Aspekte, die unter anderem in den Arbeiten von Deborah Stone reflektiert und in Kap. 3.6.2 eingeführt wurden.

  • [1] Diese Einschätzung wird von Friedbert Rüb (2006, S. 345) jedoch nicht geteilt: „Von diesen Konzepten unterscheidet sich die Wissenspolitologie dadurch, dass sie das ‚Politische' ernster nimmt. Sie begreift Politik als die Form menschlichen Handelns, die in eine bestehende Machtund damit Wirklichkeitskonstellation neue ‚Wirklichkeiten' einführt und dadurch den Status Quo herausfordert, um ihn zu verändern und neue Machtkonstellationen zu bewirken. (…) Von den sozialkonstruktivistischen Ansätzen von Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann u. a. unterscheidet sich die Wissenspolitologie grundlegend, weil bei ihr Wissenskonstruktionen nicht in erster Linie der Sinnhaftigkeit des Handelns dienen, sondern als strategische Optionen gewählt werden können, um in einem gegebenem politischen Kräftefeld ein Maximum an Macht zu realisieren.“
 
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