Die Rekonstruktion von Problematisierungen

Mit ihrer narrativen Policy-Analyse hat Deborah Stone (1989) einen wichtigen Beitrag zu einem weiteren Untersuchungsobjekt interpretativer Policy-Forschung geliefert, der Konstruktion von Problemen oder Problematisierung. Die Definition eines Sachverhaltes als Problem wurde von der Mainstream Policy-Analyse lange vernachlässigt und blieb in den meisten Fällen in einer black box vor dem Agenda Setting-Prozess (Stone 1989, S. 281).

Dies hängt unter anderem mit der „Problemlösungsbias“ der Policy-Analyse zusammen, die im Rahmen des „technokratischen Projektes“ (Fischer 1990) Politik als Lösen objektiver Probleme idealisierte (Mayntz 2001, für das Folgende ausgiebig Barbehön et al. 2015b). Während sich die Soziologie sozialer Probleme bereits in den 1960er Jahren sozialkonstruktivistischen Ansätzen zuwandte, also die Frage stellte, wie Sachverhalte zum Problem werden, bezog sich die frühe politikwissenschaftliche Kritik an der Vorstellung eines linearen Problemlösungsprozesses vor allem auf die Prägkraft von Akteuren und Strukturen für das Agenda Setting (Peters 2005, S. 353). Agenda Setting wurde als Auswahl von und Einsatz für unterschiedliche objektiv gegebene Probleme gefasst, anstatt die Problemdefinitionen und -interpretationen selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen (Jann und Wegrich 2007, S. 46). Für Cobb und Elder (1971, S. 903) spiegelte die formale Agenda den Widerstreit pluralistischer Interessen wider und war damit ein Ausdruck unterschiedlicher Machtverhältnisse. Anthony Downs kritisierte mit seinem issue-attention cycle von 1972 ebenfalls die Vorstellung, die Intensität eines Problems führe dieses früher oder später auf die Agenda. Er beleuchtete die politische und öffentliche Aufmerksamkeit, die vor allem durch außerordentliche Ereignisse erregt werde und im Laufe der Debatte wieder abebbe.

Eine weitere Absage an policy-making als Problemlösung stammt von John W. Kingdon (2003), der die These aufstellt, dass nicht objektive Probleme nach Lösungen suchten, sondern dass Lösungen ihrerseits nach Problemen suchten, an die sie sich hefteten, oder nach politischen Ereignissen, die die Wahrscheinlichkeit ihrer Implementation erhöhten. In seinem multiple streams Ansatz differenziert er drei Ströme, den Problem-Strom („Was passiert?“), den Policy-Strom („Was können wir tun?“) und einen Politics-Strom, der nach der Stimmung im Land und den Aussichten auf Unterstützung fragt. Gelingt es einem Policy Entrepreneur, einem politischen Unternehmer, diese drei Ströme zu koppeln, gelangt ein Thema auf die Agenda. Kingdon bricht damit mit der Vorstellung rationaler Problemlösung und unterstreicht Anarchie und Ambiguität im policy-making. Probleme und PolicyOptionen sind nicht kausal, sondern willkürlich miteinander verbunden (Rüb 2008, S. 99). Letztlich bleibt aber auch dieser Zugriff einer objektivistischen Vorstellung verhaftet, denn Probleme werden nicht konstruiert, sondern sind real vorhanden.

Von gänzlich anderen Prämissen geht die interpretative Policy-Analyse aus, deren Überzeugung nach Hajer (2002, S. 63) lautet: „[W]hether or not a situation is perceived as a political problem depends on the narrative in which it is discussed.“ Die Bedeutung von Problemerzählungen wird auch von David A. Rochefort und Roger W. Cobb (1993) hervorgehoben. Ähnlich dem Stone'schen Ansatz richten auch sie ihren Fokus auf die Versprachlichung von Kausalitätsannahmen, die als problematisch portraitierte Zustände mit Ursachen und Handlungspotenzialen in Verbindung bringen. Hinzu treten bei Rochefort und Cobb weitere Aspekte, die im Rahmen von Problematisierungen konstruiert werden, wie die Intensität eines Problems, seine Neuartigkeit, die Nähe (im Sinne eines individuellen oder allgemeinen gesellschaftlichen Problems) oder die Darstellung eines Problems als außergewöhnliche Krise oder als Teil politischer Routine.

Eine interpretative politikwissenschaftliche Analyse beschränkt sich aber nicht nur auf Problemdefinitionen vor dem eigentlichen Agenda Setting, sondern liest auch bestehende Policies und Programme als geronnene Problemdefinitionen. Dery[1] (1984, S. 92 f.) ist einer der ersten Autoren, die beleuchten, inwiefern die Institutionalisierung von Lösungen die Institutionalisierung von Problemdefinitionen impliziert: Bestimmte Interpretationen und Deutungen, die für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort charakteristisch seien, begünstigten die Entstehung entsprechender Institutionen, die wiederum für ein bestimmtes Problemverständnis stünden, welches sie dann im institutionellen Eigeninteresse verteidigten. Selbst wenn die ursprünglichen Problematisierer ihre Aktivitäten einstellen, reflektieren Policies und Programme spezifische Interpretationen der sozialen Welt und stellen Gelegenheitsstrukturen bereit, wie neue Probleme konstruiert werden und durch welche Gruppe von Akteuren (vgl. Groenemeyer 2003, S. 12; zur Kontrastierung interpretativer und poststrukturalistischer Ansätze zu Problematisierungen siehe Bacchi 2015). Dominante weil institutionalisierte Interpretationen stellen eine moralische Infrastruktur bereit, an die neue Problematisierungen anknüpfen müssen, um sich Gehör zu verschaffen. Insbesondere internationale Vergleiche können dabei erhellen, wie bestimmte Problemdefinitionen kulturell eingebettet werden können, während andere dies nicht vermögen (Lepperhoff 2006, S. 259).

Forschungsbeispiel

Der Rekonstruktion von Problematisierungen, hier gefasst als lokale „Problemdiskurse“,haben sich Barbehön et al. 2015a, Barbehön und Münch2014 und Zimmermann et al. 2014 gewidmet. Das Vorhaben geht von derAnnahme aus, dass sich in Städten jeweils lokalspezifische Perzeptionenund Deutungen politischer Realität ausbilden, die als kollektiver Möglichkeitsraumdas Handeln und Sprechen organisieren. Ein solches Forschungsinteresseverlangt somit nach einer städtevergleichenden Anlage, um dieSpezifika von Städten im Kontrast erkennen zu können (vgl. Gehring 2008).Untersucht wurden die diskursiven Konstruktionen und Aushandlungenjener Phänomene, die in Frankfurt am Main, Dortmund, Birmingham undGlasgow als „Probleme dieser Stadt“ gelten.

Der „Problemdiskurs“ einer Stadt wurde hier als die Gesamtheit derausdrücklich in dieser Stadt politischen Handlungsbedarf erzeugendenThematisierungen gefasst. Dabei wurde im Gegensatz zu vielen anderen interpretativen Arbeiten die Analyse nicht auf vorab bestimmte Policy-Argumente oder a priori gesetzte Themen begrenzt, sondern die Gesamtheit des öffentlichen Redens über Probleme innerhalb bestimmter Zeiträume in den Blick genommen. Bei der Systematisierung des Materials wurde in Anlehnung an Deborah Stone (1989) gefragt, was thematisch problematisiert wurde, wer dabei als „Problematisierer“ auftrat, welche Problemursache benannt und wer mit der Problemlösung beauftragt wurde. Dabei zeigte sich zum einen, dass die vier Städte nicht nur Unterschiedliches als „ihre“ Probleme wahrnehmen. Auch scheinbar gleichlautende Probleme, wie etwa „die Krise der Stadt“, bedeuten etwas Verschiedenes vor Ort (Zimmermann et al. 2014). Zum anderen wurde herausgearbeitet, dass sich über thematische Grenzen hinweg innerhalb einer Stadt spezifische Strukturmuster ausbilden, die das „Wie“ des Redens über Probleme strukturieren. Dabei zeigte sich, dass im Rahmen der Zuweisung von Ursachen, Verantwortlichkeiten und Handlungspotenzialen die Rollen und Interaktionsmuster von „Politik“, „Verwaltung“ und „Bürgern“ in je stadtspezifischer Weise entworfen werden (Barbehön 2014). Neben dieser spezifischen Konstruktion von lokalpolitischen Handlungssphären hat sich darüber hinaus gezeigt, dass sich die vier Städte nicht nur darin unterscheiden, welche sozialen Gruppen typischerweise als Problembetroffene, -verursacher oder -lösende benannt werden, sondern auch dahingehend, welche sozialen Gruppen überhaupt voneinander unterschieden werden (Münch 2014). Schließlich gehen mit diskursiven Problemkonstruktionen vielfach Wendungen der Dringlichkeit einher, wenn

„Krisen“, „Katastrophen“ oder „Miseren“ ein schnelles Handeln einfordern (Großmann 2014).

  • [1] Dery selbst gilt laut Carol Lee Bacchi (2015, S. 7) jedoch nicht als interpretativer Autor, sondern als „political rationalist“
 
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