Das Konzept der Tradition nach Bevir und Rhodes

Die insbesondere von britischen Arbeiten rezipierten Autoren Mark Bevir und Rod Rhodes (2003) beschreiten in „Interpreting British Governance“ einen Weg zwischen interpretativ-hermeneutischen und poststrukturalistischen Ansätzen. Zu ihren Grundannahmen zählt, dass Akteure auf Grundlage ihrer Überzeugungen und Präferenzen handeln, auf die nicht durch „objektive“ Indikatoren wie Schichtzugehörigkeit oder Einkommen geschlossen werden kann (Wagenaar 2007, S. 435). Sie teilen dabei den dezentrierten Zugang der Poststrukturalisten, die Bedeutung als Ergebnis von beinahe zufällig zusammengewürfelten Anhäufungen von Praktiken, Überzeugungen und Bedeutungen begreifen, die die Existenz bestimmter Kategorien ermöglichen, sprechen sich aber andererseits gegen die poststrukturalistische Vernachlässigung menschlichen Handelns aus. Zugleich lehnen sie aber auch die hermeneutische Vorstellung von Subjektivität und Essentialismus ab und damit das Bild eines autonomen Subjektes als rein und universell. Um dieses Verhältnis zwischen Handlungsfähigkeit und Determinismus auszubalancieren, führen sie das Konzept der „Tradition“ ein: „We define a tradition as a set of understandings someone receives during socialization. So, a governmental tradition is a set of inherited beliefs about the institutions and history of government“ (Bevir et al. 2003, S. 6). „Tradition“ impliziert, dass die Akteure in einen bestimmten sozialen Kontext geboren werden, der dann als Hintergrund für ihre Überzeugungen und Handlungen fungiert, ohne sie festzulegen. „Traditions allow for the possibility of subjects adapting, developing and even rejecting much of their heritage“ (Bevir und Rhodes 2003, S. 32). Es handelt sich also nicht um kulturelle Gefängnisse, sondern vielmehr um einen ersten Einfluss, der späteren Handlungen eine Färbung verleiht (Wagenaar 2007, S. 436). Traditionen sind bei ihnen definiert als „geerbte Überzeugungen“, diese sind kontingent, produziert durch die Akteure und sollten nicht hypostasiert, also vergegenständlicht werden. Individuen passen Traditionen kreativ an (Finlayson 2007, S. 548).

Die Fragestellung von Bevir (2005, 2010) und Bevir und Rhodes (2003, 2006) lautet, wann, wie und in Auseinandersetzung mit welchen Herausforderungen sich neue Vorstellungen von Staat, Politik oder Demokratie entwickeln und gegenüber welchen anderen Vorstellungen sie sich durchsetzen (Braun 2014, S. 87). Der Third Way der britischen Labour-Regierung wurde beispielsweise zu einem Logo für ein neues Master-Narrativ, das die Rekonfiguration der Beziehung zwischen Wirtschaft und Staat, Öffentlichem und Privatem, Regierung und Volk bezeichnete (Wagenaar 2011, S. 96). In „Interpreting British Governance“ von 2003 führen sie Veränderungen in der britischen Politik auf eine Reihe von Reaktionen auf unterschiedlich konstruierte Dilemmata zurück. Dabei untersuchen sie, wie Traditionen und beliefs dazu führen, dass Situationen unterschiedlich konstruiert werden (Finlayson 2007, S. 547). Bevir (2005) untersucht, wie institutionalistische Ideen und Netzwerk-Theorien in das Denken von New Labour Politikern eingeflossen sind, die ihre sozialdemokratische Tradition angesichts von Dilemmata wie die Krise des Wohlfahrtstaates oder die Herausforderung durch die Neue Rechte überarbeiteten (Finlayson 2007, S. 548).

Kritik

Bevirs und Rhodes' schlussfolgerndes und denkendes Individuum, kritisiert Finlayson (2007, S. 549–552), vernachlässigt die Besonderheit des Politischen. Für ihn ist die Unentscheidbarkeit zentral, denn Menschen verstehen unterschiedliche Dinge unter Freiheit, Wahlen, Demokratie. Konzepte könnten daher nicht unabhängig von diesen widerstrebenden und konflikthaften Deutungen etabliert werden. Es gehe beim policy-making nicht um die Entdeckung gemeinsamer Ziele, sondern deren diskursive Herstellung. Politische Akteure müssen nicht nur ihre eigene Tradition ansprechen, sondern auch die des Gegenübers. Das Besondere an der Politik sei nicht die Anwesenheit von Überzeugungen, sondern die Anwesenheit von Überzeugungen, die einander widersprechen. Finlayson (2007, S. 552) rückt daher die Argumentation und Prozesse des Überzeugens in den Mittelpunkt. Wagenaar (2011, S. 99) kritisiert zudem die Unbestimmtheit des zentralen Konzeptes der Tradition sowie die Rolle der Praxis bei Bevir und Rhodes. Diese betonten, dass sich Traditionen aus Überzeugungen und Handlungen der Akteure ergeben. Ihr theoretisch hergeleiteter Akzent auf Mikro-Praktiken finde in der empirischen Umsetzung jedoch keinen Widerhall. Ihre Untersuchung des Thatcherismus beispielsweise ruhe allein auf der Auswertung von wissenschaftlicher Literatur. Wie die sie betreffenden Reformen etwa von Sozialwohnungsmieterinnen und -mietern oder der Verwaltung wahrgenommen worden seien, blendeten Bevir und Rhodes hingegen aus. Dies gelte auch für ihre Untersuchung anderer politischer Narrative:

How important is political doctrine, or a political doctrine such as New Public Management, to the actors in inner-city Birmingham or in the National Health Service who struggle to get services delivered against a background of financial constraints and conflicting rules from the central office? (Wagenaar 2011, S. 100)

Dies wiege umso schwerer, als politische Doktrin und tatsächliche Umsetzung in der Praxis häufig auseinanderlaufen, wenn New Labour etwa Vertrauen und Dezentralisierung predigte, im Alltag aber oft dirigistisch und zentralistisch gehandelt habe (Wagenaar 2011, S. 102). Ein ergänzendes ethnographisches Forschungsdesign könnte Abhilfe schaffen.

 
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