C. Umsetzung der Grenzschutzdienstpflicht
Die entscheidende Vorarbeit für eine Grenzschutzdienstpflicht wurde in der vierten Wahlperiode geleistet. Jedoch erst mit der Verankerung des neuen Art. 12a Abs. 1 GG in der fünften Wahlperiode im Rahmen der Notstandsverfassung mit Wirkung zum 28. Juni 1968, welcher die Möglichkeit eröffnete, Männer zum Dienst im Bundesgrenzschutz zu verpflichten, konnte die Vorarbeit für eine Grenzschutzdienstpflicht ihren Abschluss finden. Gleichwohl waren erneut nicht unerhebliche Anstrengungen notwendig, da die Bundesregierung mittlerweile auf Basis der großen Koalition regierte und sowohl ein neuer Bundeskanzler wie Innenminister, als auch die SPD als Koalitionspartner an den Vorgängen beteiligt war.
Kurze Zeit nach Inkrafttreten der Notstandsverfassung wandte sich der damalige Bundesinnenminister Benda mit der Bitte an Bundeskanzler Kiesinger, dass dieser mit den Koalitionspartnern ein „Grundsatzgespräch“ über die Frage herbeiführen solle, ob noch in der fünften Legislaturperiode, also bis spätestens 1969, die Grenzschutzdienstpflicht sowie ein neues Bundesgrenzschutzgesetz verabschiedet werden könne1850. Die Anregung Bendas, der Kanzler solle ausloten, inwieweit die SPD ein neues Bundesgrenzschutzgesetz und die Grenzschutzdienstpflicht mittragen würde, fand ihren Ursprung in einer Richtlinienentscheidung des Kanzlers aus dem Mai 1969. Bundeskanzler Kiesinger hatte am 29. Mai 1968, also noch vor Inkrafttreten der Änderungen zum Grund- gesetz, mitgeteilt, dass die Koalitionsfraktionen angeregt hätten, „nach der Verabschiedung der Notstandsverfassung vorübergehend etwas Ruhe“ eintreten zu lassen und er dem zustimme.1851 Benda entgegnete daraufhin, dass er zwar auch für „Zurückhaltung“ sei, diese Prämisse jedoch „durch eine gesetzliche Neuregelung für den Bundesgrenzschutz demnächst werde durchbrochen werden müssen“1852. Diese „Durchbrechung der politischen Ruhe“ nach Verabschiedung der Notstandsgesetze wollte Benda nun mit den gleichen Gründen rechtfertigen, die bereits 1964 zu Überlegungen geführt hatten, eine Grenzschutzdienstpflicht einzuführen. Die Personalstärke liege seit Jahren erheblich unter der Sollstärke von 20.000 Mann. Der Personalfehlbestand betrage ca. „ein Viertel der Gesamtstärke“1853. Weiterhin könne man das „Personalproblem des Bundesgrenzschutzes auf der ausschließlichen Grundlage der Freiwilligkeit“ nicht lösen und deshalb sei die Einführung einer Grenzschutzdienstpflicht notwendig1854. Benda legte gleichzeitig mit genanntem Schreiben einen Entwurf für ein neues Bundesgrenzschutzgesetz vor, welches die Neuerungen aus der Notstandsverfassung mitbehandelte. Der Entwurf für das neue Bundesgrenzschutzgesetz war relativ schlank und enthielt in einem neu gefassten § 3 BGSG enumerativ die Aufgaben aus der Notstandsverfassung1855. Zudem enthielt Bendas Schreiben noch einen eigenen Entwurf eines „Gesetzes über die Dienstpflicht im Bundesgrenzschutz“. Die Regelung der Grenzschutzdienstpflicht wurde aber letztlich im Wehrpflichtgesetz verankert. Daher wird dieser Entwurf hier nicht näher behandelt, da er inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit den später beschrieben Regelungen im Wehrpflichtgesetz ist.
Auf Bendas Initiative hin wandte sich am 19. September 1968 der Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt und spätere Bundesjustizminister Gerhard Jahn (SPD) an den damaligen Chef des Bundeskanzleramtes, Karl Carstens (CDU), mit dem Hinweis, dass gegen die Vorlage eines Grenzschutzdienstpflichtgesetzes „in Kreisen der SPD Bedenken erhoben [werden] wegen der möglichen politischen Folgen“, da in einem solchen Gesetz „der Anreiz liegen“ könne, „die Diskussion um die Notstandsgesetzgebung von einer ganz ungeeigneten Stelle wieder zu beleben“1856. Diese Befürchtungen legte die SPD jedoch schnell beiseite. In der Fraktionssitzung der SPD vom 16. Oktober 1968 zeigte der Vorsitzende des Innenausschusses, Schmitt-Vockenhausen (SPD), Verständnis für eine Grenzschutzdienstpflicht und erklärte, dass es „nach wie vor schwierig [sei], den Bundesgrenzschutz auf Sollstärke zu bringen“1857. Weitere Bedenken wurden ab diesem Zeitpunkt von der SPD nicht mehr erhoben. In einer internen Stellungnahme des Bundeskanzleramtes zu dem Gesetzesvorhaben wird die politische Dimension der Grenzschutzdienstpflicht wie folgt zusammengefasst:
„Politische Bedenken dürften gegen die Einführung einer Grenzschutzdienstpflicht im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bestehen. Die Öffentlichkeit ist in den letzten Tagen durch verschiedene Presseveröffentlichungen auf die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme vorbereitet worden. Sie wird unter dem Eindruck der CSSR-Krise im derzeitigen Augenblick noch am ehesten Verständnis dafür haben, zumal wenn ihr die Funktion des BGS als Polizeipuffer in Krisenzeiten deutlich gemacht wird.“1858
Der Hinweis auf die Krise in der Tschechoslowakei 1968 („Prager Frühling“) war nicht abwegig. Ereignisse in diesem Zusammenhang hätten tatsächlich einen Einsatz des Bundesgrenzschutzes notwendig machen können. Gemäß einer Ressortbesprechung über „Sicherungsmaßnahmen an der deutschtschechischen Grenze für den Fall größerer Fluchtbewegungen und Kampfhandlungen“ wäre ein Einsatz des Bundesgrenzschutzes unumgänglich gewesen, da für die Soldaten der Bundeswehr „ein Verbot bestehe, sich mehr als fünf km der Grenze zu nähern“1859. Um Grenzzwischenfälle zu vermeiden und das Risiko einer militärischen Eskalation zu minimieren, wurden die Soldaten der Bundeswehr angewiesen, „in und außer Dienst in Uniform einen Streifen von 1000 m Breite entlang der Grenze zur CSR und der SBZ-DL nicht zu betreten“, bzw. durfte ein Streifen von 5000 Meter Breite von „geschlossenen Einheiten ab Kompaniestärke aufwärts nicht betreten werden“1860. Benda hatte ebenso die Bedeutung der Krise in der Tschechoslowakei erkannt und verwendete diese als Argument für die Grenzschutzdienstpflicht. Er legte dar, dass die Stärke der betreffenden Einheit an der bayerisch-tschechischen Grenze, die Grenzschutzgruppe 1, eine „Antretestärke von 664 Mann“ bei einer Sollstärke von 1.823 Mann1861 habe. Somit könne die Grenzschutzgruppe 1 (Raum Bayern) ihre Aufgabe nicht voll erfüllen.
Die Bundesregierung hatte die Notwendigkeit für eine Auffüllung des Bundesgrenzschutzes, auch unter Zuhilfenahme des Eindruckes aus der damaligen gegenwärtigen Krise im Nachbarland Tschechoslowakei, hinreichend klar herausgestellt. Da kein Widerstand von Seiten des Koalitionspartners SPD vorhanden war, stand einer Umsetzung der Grenzschutzdienstpflicht im Herbst 1968 kein Hindernis mehr im Wege. Das neue Bundesgrenzschutzgesetz, welches Benda gleichzeitig mit dem Grenzschutzdienstpflichtgesetz vorgelegt hatte, konnte in der fünften Wahlperiode jedoch nicht mehr verabschiedet werden. Der Grund hierfür lag darin, dass Bendas Entwurf nur die Konsequenzen aus der Notstandsverfassung in das neue Bundesgrenzschutzgesetz einarbeitete, jedoch einer umfassenden Regelung, „die auch das materielle Polizeirecht des Bundes“ enthalten sollte, Vorzug gegeben wurde, was aber gleichzeitig „so viele schwierige Fragen“ aufwerfe, dass sie in dieser Legislaturperiode nicht mehr ausgearbeitet werden könne1862. Das neue umfassende Gesetz über den Bundes- grenzschutz wurde erst in der sechsten Wahlperiode verabschiedet. Bendas ursprüngliches Vorhaben, die Grenzschutzdienstpflicht in einem eigenen „Grenzschutzdienstpflichtgesetz“ zu verankern, wurde ebenso nicht umgesetzt, da man zuerst Erfahrungen mit Grenzschutzdienstpflichtigen sammeln und dann bis zum 1. April 1970 ein umfassendes Grenzschutzdienstpflichtgesetz vorlegen wollte1863. Die Grenzschutzdienstpflicht wurde schließlich am 6. Dezember 1968 vom Bundestag im neu eingefügten § 42a des Wehrpflichtgesetzes mit der Begründung des „Personalmangels“ beim Bundesgrenzschutz verabschiedet1864.