Die Melancholie – ein zeitgenössischer Gegenspieler
Ein letzter definierender und abschließender Schritt des historischen Teils zum Enthusiasmus soll in diesem Kapitel nun in Form der Präsentation eines Gegenspielers desselben erfolgen. Bernd Bösel führt in seinem Buch „Philosophie und Enthusiasmus“ (Bösel, 2008) die Melancholie als Gegenbegriff zum Enthusiasmus an. Er erklärt sie durch die Vorstellung der beiden „innerphilosophischen Frontstellungen“: „Die Melancholie, die hier als Inbegriff der negativexistenziellen Stimmungen verstanden wird, steht dem Enthusiasmus innerhalb des Gemütsspektrums antithetisch gegenüber“ (Bösel, 2008, S. 13). Außerhalb dieses Gemütsspektrums nennt er neben der ‚Melancholie' noch die ‚Nüchternheit' im Sinne einer Affektfreiheit als Gegensatz zum Enthusiasmus. Damit wird das Gemütsspektrum mit den Außenpolen ‚Enthusiasmus' und ‚Melancholie' beschrieben. Die mangelnde Beschäftigung der Philosophie mit dem Enthusiasmus führt Bösel zu einer These, der sich die Pädagogik nur anschließen kann:
„Ein Denken, das keinen Ernst um sich verbreitet, wird innerhalb der traditionellen Akademien eben auch selten ernstgenommen.[...] Für das zeitgenössische Denken lässt sich also fast schon insgesamt die Abwesenheit des Enthusiasmus als philosophische Kategorie attestieren.“ (a.a.O., S. 11). Er führt dieses weiter aus, indem er auf die fehlenden Enthusiasmustheorien im 20. Jahrhundert verweist (vgl. a.a.O., S. 13ff). Daher ist es bemerkenswert, dass innerhalb des pädagogischen Diskurses zumindest eine Veröffentlichung über den Gegenspieler des Enthusiasmus existiert. Dorit Heidemanns beschäftigte sich in ihrem Aufsatz „Das Verschwinden der Melancholie aus dem pädagogischen Diskurs“ (1989) mit dem Phänomen. Wenn auch dieser Aufsatz scheinbar nur wenig Anklang in der pädagogischen Diskussion gefunden hat, so ist es aufgrund der fehlenden Erkenntnisse über den Enthusiasmus für die vorliegende Arbeit interessant, wie Heidemanns den Bezug dieses philosophischen Phänomens Melancholie als Gegenspieler zum Enthusiasmus im pädagogischen Diskurs verankert sieht.
Das Phänomen eines melancholischen Kindes taucht nach Heidemanns erstmals im 17. Jahrhundert auf. Zu den Symptomen eines melancholischen Kindes zählte man Arbeitsscheue, Tatenarmut, Antriebsschwäche, fehlende Entschlusskraft und einen mangelnden Aktivitätsdrang (vgl. a.a.O., Heidemanns, 1989, S. 15). Melancholische Kinder hatten nach dieser Beschreibung keinen
„inneren Antrieb“, sich zu entfalten. Heidemanns stellt weiter fest, dass, bis auf das 19. Jahrhundert, in allen Epochen verschiedene Melancholiekonzepte entstanden sind, jedoch weder eine chronologische Abfolge der Entwicklung noch die Zuordnung zu einer einzelnen Epoche festzustellen sei. Auch die Ausführungen zur Melancholie beinhalten die Anlage-Umwelt-Debatte mit Vertretern wie Johann Amos Comenius (1592-1670) oder John Locke (1632-1704), was Heidemanns zum Anlass nimmt, eine gewisse Systematik in die Materie zu bringen. So wurden körperliche Erscheinungsformen beschrieben und Vorschläge zu einer der Melancholie entgegenwirkenden Erziehung von verschiedenen Pädagogen gemacht. Ganz im Vordergrund steht hierbei das aktive Handeln eines Kindes zur Vermeidung einer möglicherweise aufkommenden Melancholie. Auch hier wird Bezug auf alte philosophische Aussagen genommen, denn dieser Therapieansatz geht auf Aristoteles zurück: „Alle tüchtige und gelingende Tätigkeit besonders alle schaffende Tätigkeit, ist nach der Einsicht, die das Fundament der aristotelischen Ethik bildet, mit Lust begleitet [...] sie stellt sich als Begleiterscheinung bei jeder zielstrebigen Tätigkeit von den ersten Plänen bis zur glücklichen Erreichung des Ziels von selber ein; einen ungesuchten Nebenerfolg...“ (Paulsen, 1912, zitiert nach Heidemanns, 1989, S. 12). Diese „Lust“, wie sie Aristoteles beschreibt, kann man heutzutage als eine Form des enthusiasti- schen Handelns deuten, die hier sozusagen als „Gegenmittel“ zur Melancholie wirken soll. Hier sind also bereits erste Züge des Enthusiasmus beschrieben, die sich in Form der Aktivitäten beim Kind zeigen. Ein weiterer Punkt, dem innerhalb dieser Arbeit über den Enthusiasmus ebenfalls Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist das interdependente Verhältnis des Enthusiasmus von Lehrer und Schüler. Dieses wurde ebenso für das eingeschränkte Wirken eines von Melancholie überfallenen Lehrers auf den Schüler festgestellt: „...aber wir werden ebenso sehr auch wissen, daß [der Melancholiker] seine Aufgaben schlecht erfüllt, daß er niemand wirklich glücklich zu machen imstande ist, sondern mehr bedrückt als erfreut. Er kann wohl im äußeren Sinn helfen und unterstützen, und man soll von dieser Hilfe nicht gering denken, aber niemals kann er durch eine wirklich innere menschliche Nähe dem anderen über seine Schwierigkeit hinweghelfen.“ (Bollnow, 1956, S. 100, zitiert nach a.a.O., S. 13). Heidemanns hält fest: „Das Temperament des Lehrers zog demnach die Schüler in seinen Bann“. Sehr früh wurde hiermit das „ansteckende“ Lehrer-Schüler-Verhältnis beschrieben, schließlich der enthusiastische Lehrer innerhalb der Temperamentenlehre als Sanguiniker bezeichnet und als „sonnige“, „hellglänzende“ und „heitere“ Lehrer überhöht (vgl. a.a.O., S. 14). So entwickelte sich ein negatives Bild des melancholischen Kindes, das den aufklärerischen Optimismus in Frage stellt, sich menschenscheu zurückzieht und sich von seiner Umwelt abschottet. Es war ein Feindbild des Melancholikers in der Gesellschaft zur Zeit der Aufklärung, die einen gemeinsamen Fortschritt zum Ziel hatte. Heidemanns weist jedoch auch auf die zurückgebliebene „Skepsis“ hin, die im Zeichen des Spannungsverhältnisses zum aufklärerischen Melancholieverbot für Kinder steht. Umgekehrt fasst sie jedoch für die Pädagogik zusammen, dass das Postulat einer glücklichen Kindheit als eine Folge der Aufklärung zu verstehen ist, soweit man in ihr die Säkularisierung von Heilserwartungen sieht (vgl. a.a.O., S. 17). Ein glückliches Kind ist ein Träger der Zukunft: war diese glückliche Kindheit nicht gegeben und das Kind melancholisch, so musste sie geschaffen werden (vgl. a.a.O., S. 18).
Diese These ist innerhalb der von Heidemanns aufgestellten Struktur von Melancholiekonzepten der erste Punkt, der umgekehrt die Förderung von Enthusiasmus für die Erziehung eines „glücklichen“ Kindes als Faktor nennt. Indirekt hat Heidemanns die Enthusiasmus fördernden Faktoren bereits in ihrer historischen Melancholiebeschreibung erwähnt. Sie belegt, dass die Förderer von Enthusiasmus als Teil der pädagogischen Erziehung bereits erkannt, jedoch noch nicht richtig benannt und eingeordnet worden sind.
Das ganzheitliche Verschwinden des Begriffs der ‚Melancholie' aus der Pädagogik führt Heidemanns auf die „realistische Wendung“ in den 1960er Jahren und den Einzug der sozialwissenschaftlichen Methoden zurück. „Die Orientie- rung an den Sozialwissenschaften zerschlug im Grunde alle einheimischen Begriffe der Tradition der Disziplin“ (a.a.O.). Heidemanns hebt hervor, dass ein Terminus wie ‚Melancholie' quasi ein leeres Wort sei, da es empirischquantifizierend nicht zu erfassen ist. An dieser Tatsache hat sich für die Pädagogik sowohl für die Melancholie als auch für ihren Gegenspieler bis heute nichts geändert. Auch wenn der Begriff der Melancholie stärker in den Bereich der psychoanalytisch orientierten Pädagogik fällt, verliert sich auch hier die Spur der Forschung über das melancholische Kind (vgl. a.a.O., S. 19).
Weil die Melancholie nicht einfach empirisch quantifizierbar ist und es vermutlich auch zu den Auswirkungen auf das Kind und sein Lernverhalten keine weitere Forschung gibt, ist es ebenso bedeutsam, den Enthusiasmus als Gegenspieler zur Melancholie in seiner Charakteristik zu untersuchen. Seine Auslöser, die hier zur Hilfe für ein melancholisches Kind erwähnt werden, gilt es also zu erforschen.
Zusammenfassung
Die voran gegangenen Kapitel veranschaulichen, dass der Begriff ‚Enthusiasmus' in der Philosophie eine Bedeutung besitzt, welche große Philosophen schon sehr früh beschäftigte und die sich im Laufe der Zeit stark veränderte. Die Äußerungen von Shaftesbury, Kant und Platner sind um die 300 Jahre alt und dienen für die vorliegende Arbeit als ein philosophisches und systematisierendes Fundament.
Nach den Aussagen einzelner Philosophen und Geisteswissenschaftler sind, neben den vorgestellten Ausführungen zum Gegenspieler „Melancholie“, keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Enthusiasmus von Pädagogen – und hier insbesondere nicht in der Musikpädagogik – bekannt.
Das Phänomen tritt in der Psychologie bis heute ebenfalls nicht als Forschungsobjekt auf. Aktuelle Motivationsund Interessentheorien nähern sich indirekt dem Phänomen aufgrund der Verbindungen von Interesse, Enthusiasmus und Motivation (vgl. Deci & Ryan, Krapp & Prenzel et al.). Sie sind die einzigen wissenschaftlichen und empirisch belegten Theorien, auf die man sich als verwandte Konstrukte zum Enthusiasmus in den folgenden Kapiteln der Arbeit beziehen kann, um sich dem Phänomen weiter zu nähern.