Der Musikalische Enthusiasmus in der pädagogischen Situation
Innerhalb der vorausgegangenen Beschreibung des ME als eine reziproke Form ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis bereits mehrfach erwähnt worden. Nun soll auf dieses Verhältnis als Kern der sozialen Beziehung im Unterricht in didaktischer Hinsicht genauer eingegangen werden, um den ME im Lehrer-Schüler Verhältnis innerhalb der pädagogischen Situation zu erkennen und dann anschließend im nächsten Kapitel modellhaft verorten zu können.
Das individuelle Verhältnis zwischen Schüler, Lehrer und Lerninhalt wird oftmals triangulär in Form eines Dreiecks dargestellt. Kansanen & Meri (1999) beschreiben visuell die Interaktion zwischen Lehrer und Schüler im Unterricht mit dem ‚Didaktischen Dreieck':
Abbildung 8: Das didaktische Dreieck (1) (Kansanen & Meri, 1999, nach Kansanan, 2003)
Dieses Modell wird aufgrund seiner schlichten Eindimensionalität in der Wissenschaft oftmals kritisiert. So bemängelt beispielsweise Walter Herzog in seinem Buch „Zeitgemäße Erziehung“ (2006) eine fehlende wissenschaftliche Abbildung der realen Unterrichtsituation, in die Lehrer und Schüler eingebunden sind, durch das didaktische Dreieck. Eine neue Abbildung der pädagogischen Realität erstellt Herzog anhand einer sozialen Theorie, die mittels eines MehrEbenen-Modells die heterogene Unterrichtssituation wiedergibt (Herzog, 2006,S. 392ff, Mehr-Ebenen-Modell, S. 457). Herzog beschreibt damit eine hochkomplexe pädagogische Situation, die in ihrer Beschreibung weit über das einfache Lehrer-Schüler-Verhältnis hinausgeht. Er begründet mit seinem neuen Modell gleichzeitig die Vernachlässigung des Sozialen in der allgemeinen Didaktik:
„Über die soziale Dynamik des Unterrichts ist ihr praktisch nichts bekannt“ (a.a.O., S. 391). In Bezug auf die didaktische Analyse der Unterrichtssituation weist Herzog auch darauf hin, dass das didaktische Dreieck zwischen Lehrer, Schüler und dem Lerninhalt kein reales Abbild ergibt (vgl. a.a.O.). Die Mehrdimensionalität des Unterrichts nach Herzog aufzugreifen und in Hinblick auf den ME zu erforschen, wäre ein weiterer und für die Unterrichtspädagogik sinnvoller Schritt. Um Herzogs mehrdimensionalem Analyseanspruch einer Unterrichtssituation jedoch gerecht zu werden, bedürfte es weiterer empirischer Studien zum ME, bevor man sich auf dieses Modell weiter wissenschaftlich beziehen könnte. Trotz der berechtigten Kritik soll das Modell für eine erste Verortung des ME im didaktischen Kontext aufgrund seiner einfachen Reduzierung zur zusammenfassenden Visualisierung des ME im Lehrer-Schüler Verhältnis, nach den folgenden Ausführungen zur pädagogischen Situation im Kontext des ME, im nächsten Kapitel verwendet werden.
Innerhalb der pädagogischen Situation betont Herzog besonders die gegenseitige Wahrnehmung von Lehrer und Schüler. „Die Lehrkraft nimmt die einzelnen Schülerinnen und Schüler wahr und nimmt zugleich wahr, daß sie ihrerseits wahrgenommen wird. In gleicher Weise nehmen die Schülerinnen und Schüler die Lehrerin wahr und bemerken gleichzeitig, daß sie ihrerseits wahrgenommen werden“ (a.a.O., S. 397). Die Vermittlung des Wissens seitens des Lehrers an den Schüler ist immer ein interagierendes soziales Zusammenspiel. Keine pädagogische Situation wäre ohne Wissen und Kommunikation existent: „Wissen und Kommunikation sind [...] Begriffe, ohne die pädagogische Situationen nicht erkennbar wären.“ (a.a.O., S. 389). Neben dem zu vermittelnden Wissen im Unterricht und der bereits angesprochenen möglichen Entstehung von Reziprozität, ist der wesentliche Teil hierbei die Kommunikation.
Eine weiterer und bedeutender Faktor, innerhalb des Verhältnisses von Lehrer und Schüler in der pädagogischen Situation, ist auch die Motivation. In Kansanens Artikel „Studyingthe Realisitic Bridge between Instruction and Learning. An Attempt to a Conceptual Whole of the Teaching-StudyingLearning Process“ (2003) wird darauf hingewiesen, dass es unrealistisch sei, zu denken, die Schüler besäßen kontinuierlich und ständig eine intrinsische Motivation. Der Lehrer und die Schüler stehen im Unterricht in einer Interaktion. Im besten Fall besitzen beide eine intrinsische Motivation, sich mit dem Lerninhalt auseinanderzusetzen und „treffen“ sich dabei an der Spitze der Pyramide. Was Kansanen innerhalb der Lehrer-Schüler-Interaktion in Bezug auf den Lerninhalt anmerkt, ist, dass in dieser Situation vor allem der Schüler und der Lerninhalt auf einer Ebene sein müssen. Der Lehrer dient viel mehr als Begleiter. „To concentrate on the relation between the student and the content or on studying is, however, the core of a teacher's profession“ (Kansanen, 2003, S. 10). Damit wird deutlich, dass sowohl die Position des Lehrers innerhalb dieser Interaktion eine neue Definition erfährt, als auch dadurch die Betonung stärker auf die Interaktion zwischen Schüler und dem Lerninhalt liegt. Deshalb tauschte Kansanen die Konstanten und stellt das Verhältnis zwischen dem Schüler und dem Lerninhalt, die „pedagogical relation“, in den Mittelpunkt:
Abbildung 9: Das didaktische Dreieck (2) (Kansanen & Meri, 1999, nach Kansanan, 2003)
Die positive Beziehung zwischen Lehrer und Schüler in Bezug auf den Lern-inhalt beschreibt er wie folgt: „There are two cells where the intentions of both the teacher and the students are in line with each other. [...] the ideal condition for joint activities is at hand when both parties are purposive [...]. The condition can, perhaps, be described on the basis of we-intention“ (a.a.O., S. 228f). Das ist jedoch bis auf ihre gegebenenfalls gleiche Motivation, gleiches Interesse und wohlmöglich auch „gleichen“ Enthusiasmus für die Sache ansonsten nicht gegeben. Und das, führt Kansanen an, ist nicht immer beim Schüler automatisch der Fall. „It is unrealistic to think that every student is intrinsically and constantly motivated to study various subjects at school“ (a.a.O., S. 227). Der Lehrer steht in der Unterrichtssituation in einem anderen Verhältnis zum Schüler als sonst. Außerdem steht er auch physisch vor der Klasse und nicht in ihrer Mitte. Daher würde es in Hinblick auf die Interaktion nicht der Situation realitätsgetreu sein, hier von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu sprechen. Allgemein gesehen kann man Kansanen jedoch zustimmen, dass bei einer gleichen positiven Einstellung dem Lerninhalt gegenüber das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler enthierarchisiert wird.
Kansanen thematisiert zwar nicht den Enthusiasmus, der in einer Lehrer-SchülerInteraktion aufkommen kann, jedoch beschreibt er das positive Verhalten gegenüber dem Lerninhalt sowohl vom Schüler als auch vom Lehrer mit dem Wort „purposiveness“ (Zielgerichtetheit). Ebenso fügt er hierbei die intrinsische Motivation an. „Purposiveness in a student's mind has completely different characteristics. The starting point is motivation“ (a.a.O., S. 226). Jedoch führt Kasanen diesen Punkt sowie die Entwicklung von intrinsischer Motivation hin zum Willen zu lernen nicht weiter aus. Denn beides, sowohl die Zielgerichtetheit als auch die intrinsische Motivation kann auch Teil eines ausgelösten ME sein. Besteht ein ME für etwas, so ist auch eine intrinsische Motivation vorhanden. Innere Zielgerichtetheit ist allgemein bei jedem ausgelösten Enthusiasmus für ein Objekt vorhanden. Was bewirkt der ME also beim Schüler? Verändert sich durch den ausgelösten ME das Subjekt-Objekt-Verhältnis? Die Didaktik hat hierzu bisher keine Erkenntnisse hervorgebracht, die Philosophie beschäftigt sich mit diesem Bezug und findet erste Antworten auf diese Fragen.