Das Singen im Unterricht als Förderer des Musikalischen Enthusiasmus

In den durchgeführten Schülerinterviews wurde auf die Frage, ob es einen bestimmten Moment im Musikunterricht gab, in dem der Schüler einen ME erlebt hat, öfter das gemeinsame Singen als Faktor erwähnt. Ist das Singen im Musik-unterricht daher eine Handlung, die den ME beim Schüler fördert und vielleicht sogar leichter auslöst als andere Unterrichtsinhalte?

46,3 % (n = 40)aller Schüler gaben das Singen als einen Auslöser für den ME im Unterricht an. Es handelt sich in diesem Fall um eine gemeinsam geteilte Erfahrung des ME, die durch eine Handlung von außen beim Schüler unbewusst herbeigeführt wird, da das Singen im Musikunterricht durch den Lehrer geleitet wird. Die Konsequenz ist ein kurzzeitig erlebter Enthusiasmus im Musikunterricht (siehe in der folgenden Typologie zum ME: Typ 7). Der Schüler kann diese Situation nicht in einer ähnlichen Weise in der Freizeit hervorrufen, sodass er sich freut, wieder im Musikunterricht zu singen: „Also es begeistert mich, wenn wir halt zusammen mit der Klasse was singen [...]“ (17 Jahre, Realschule / 171410C, Z. 16). Die Neurowissenschaft liefert in Bezug auf das gemeinsame Singen wissenschaftlich Ergebnisse, die ein Beleg dafür sein könnten, warum der ME beim Singen gemeinsam und so intensiv erlebt wird (vgl. Romberg, 2007, S. 32). Beim Singen wird in der vorderen Gehirnregion das Belohnungssystem aktiviert. Weiter innen im Gehirn, in den Basalganglien, wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, was unter anderem die Gedächtnisprozesse und die soziale Bindungsfähigkeit beeinflusst. Letzteres lässt erklären, warum durch das Singen der gemeinsam erlebte ME und das „Wir-Gefühl“ stärker erfahren wird als in anderen Unterrichtshandlungen. „Dann hat man noch mal so ein Gemeinschaftsgefühl“ (15 Jahre, GAG / 1500810D, Z. 53). Neben der neurowissenschaftlichen, kulturellen und pädagogischen Betrachtungsweise versucht die Musikpädagogin Johanna Romberg auch das Singen aus entwicklungspsychologischer Sicht im Rahmen des Singens der Brandenburger Domsingschule mit einem geschlechtsspezifischen Unterschied zu betrachten: „Ab zwölf [Jahren] sind Stimme, Notenkenntnisse, und Musikbegeisterung so weit gefestigt, dass Mädchen und Jungen wieder zusammen singen können.“ (Romberg, 2007, S. 52). Sicherlich sind mit dieser Äußerung vor allem die stimmphysiologischen Gegebenheiten gemeint, die sich in einem gewissen Alter bei Mädchen und Jungen unterschiedlich entwickeln. Diese Äußerung ist ein beispielhafter Beleg dafür, dass der ME (hier ‚Musikbegeisterung') in Verbindung mit dem Singen von Jugendlichen gebracht wird. Doch „festigt“ (a.a.O.) sich wirklich eine „Musikbegeisterung“ beim Menschen bis zum 12. Lebensjahr? Diese Annahme ist kritisch zu hinterfragen, da es bisher dafür keine wissenschaftlichen Belege gibt und der ME sich in verschiedenen Entwicklungsphasen unterschiedlich zeigt. Im Gegenteil, alle bisherigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass der ME nicht an bestimmten Merkmalen einer Person festzumachen ist und deshalb Aktivitäten, wie das gemeinsame Singen im Unterricht, die Verbundenheit und Gleichstellung durch die gemeinsame Erfahrung eines ME nur bestärken.

Persönliche Stellungnahme zu den Interviews

Im Anschluss an die erste qualitative Inhaltsanalyse ist es mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle einige meiner Eindrücke zur Durchführung der Interviews zu erwähnen.

Nachdem die Schwierigkeiten beim Feldzugang überwunden waren und es zur Durchführung der Interviews in den Schulen und bei der Eltern-BläserGruppe kam, nahm ich bei allen Probanden eine Aufgeschlossenheit und ein grundlegend positives Interesse an der Forschungsthematik wahr. Einige Schüler hatten zu Beginn die bereits erwähnten Probleme (Kapitel 6.1) mit der Definition des Begriffs ‚Enthusiasmus'. Nachdem an dieser Stelle das Synonym ‚Begeisterung' erklärt wurde, ergab diese Begriffserklärung bei Vielen einen Anstoß für weitere Aussagen. Diese leichte Begriffsunsicherheit und der eher seltene Gebrauch der Wörter ‚Enthusiasmus' und ‚Begeisterung' begründen umgekehrt auch das oft von den Schülern in diesem thematischen Kontext verwendete Wort‚Spaß'. Auch zu den aus den natürlich erhobenen Ergebnissen zum Begriff ‚Leidenschaft' ist der fast ausschließliche Gebrauch bei den Erwachsenen mit dem üblichen Wortschatz der Schüler zu erklären. Dennoch haben sie mit ihren Worten den ME vielseitig und oft erstaunlich reflektiert für ihre Entwicklungsphase definiert, eingeordnet und sogar meistens in Relation zur eigenen Motivation setzen können. Die Durchführung hat mir sehr viel Freude bereitet, meiner Einschätzung nach für die Altersstufe der Schüler beeindruckende Aussagen hervorgerufen und mir einmal mehr die Präsenz, Emotionalität und daher auch die Bedeutung des Musikunterrichts für die Schüler aufgezeigt.

Die erwachsenen Mitglieder der Eltern-Bläser-Gruppe haben durch ihre größere Lebenserfahrung, im Vergleich zu den Schülern, den ME vor einem anderen Hintergrund betrachtet. Ihre Aussagen zu dem bemerkenswerten ME, mit dem sie ein Instrument neu erlernen, geben einen besonderen Aufschluss über die Konsequenzen ihres ME. Allgemein bin ich beeindruckt davon, wie ausführlich, detailliert und nah am Phänomen ich in stets angenehmer Atmosphäre mit jedem Probanden, unabhängig von der Entwicklungsphase, über den ME im Umfeld musikalischer Bildung sprechen konnte.

 
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