"Kampf um den organisierten Willen"
Im Jahr 2005 erweiterte die NPD ihr Säulenkonzept um ein weiteres Element. Der "Kampf um den organisierten Willen" bezeichnet die Bündnispolitik der NPD. Mit der eigenen Partei als führender und impulsgebender Kraft an der Spitze soll das "nationale Lager" in einer "Volksfront" [1] zusammenarbeiten anstatt sich gegenseitig Konkurrenz zu machen. Die bereits zuvor forcierte Annäherung an die freien Kameradschaften 2004 und mehr noch der "Deutschlandpakt" mit der damals zweiten großen extrem rechten Partei, der DVU, ein Jahr später wurden mittels dieser vierten Säule in die Partei-Gesamtstrategie integriert. [2]
Der "Deutschlandpakt" mit der DVU war eine Vereinbarung, in der die beiden Parteien im Januar 2005 festlegten, bis Ende 2009 nicht in Konkurrenz zueinander bei Wahlen anzutreten. [3] Bei der Bundestagswahl 2005 trat die NPD an, dafür kandidierte die DVU bei den Europawahlen 2009. Bei Landtagswahlen waren DVU-Kandidaturen in Sachsen-Anhalt, Bremen, Hamburg, Thüringen und Brandenburg vereinbart – bei allen anderen hätte die DVU nicht antreten dürfen, wenn die NPD dies getan hätte. [4] "Die NPD traue sich den Spagat zwischen ›Freien‹ einerseits und Nationalkonservativen andererseits zu. Organisatorische Verschmelzungen seien aber nicht vorgesehen", schrieb 2004 die "Deutsche Stimme" über die damals noch anstehende Säulenerweiterung (Rabe 2004b). Allgemein hatten sich die Wahlergebnisse der extrem rechten Parteien in den ersten Jahren nach Installation des Deutschland-Pakts verbessert – auch wenn dies in den meisten Fällen keine Mandatsgewinne zur Folge hatte. [5] Angesichts einer schwächelnden DVU gab es in der NPD jedoch regelmäßig Stimmen, die den "Deutschlandpakt" zugunsten der NPD nachverhandelt wissen wollten. Beim NPD-Bundesparteitag 2008 in Bamberg wurde gefordert, einen NPD-Wahlantritt bei den Landtagswahlen in Thüringen 2009 gegenüber der DVU durchzusetzen.
Schließlich kam es zum offenen Bruch: Bei den Landtagswahlen 2009 in Brandenburg trat die NPD nach einem entsprechenden Parteivorstandsbeschluss konkurrierend zur DVU an (Gensing 2009). Letztere hätte absprachegemäß alleinig antreten sollen. Die NPD errang 2,5 Prozent der Stimmen und erreichte ihr Hauptziel: die DVU landete bei lediglich 1,2 Prozent und verlor ihre einzige Landtagsfraktion (Inforiot 2009). DVU-Gründer und Finanzier Gerhard Frey hatte sich im gleichen Jahr vom Parteivorsitz zurückgezogen. Sein Nachfolger Matthias Faust betrieb eine Abwicklungspolitik. Nach entsprechenden Vordiskussionen und Beschlüssen fusionierten NPD und DVU zum 1. Januar 2011 zu einer Partei "NPD. Die Volksunion". Faktisch handelte es sich um eine Übernahme der sich in Agonie befindenen DVU durch die NPD. [6] Der von NPD-Seite erhoffte Schub an Mitgliedern, Finanzkraft und politischer Stärke blieb allerdings aus. Die Mitgliederzahlen sind nach der Fusion nicht etwa angestiegen, sondern erheblich gesunken. Matthias Faust, letzter DVU-Bundeschef, gehörte nach der Fusion (bis 2014) dem Parteivorstand der NPD an.
Bereits vor dem "Deutschlandpakt" hatte die NPD ihre Zusammenarbeit mit den militanten freien Kameradschaften intensiviert. Wenige Tage vor der Landtagswahl in Sachsen waren mit Ralph Tegethoff, Thorsten Heise und Thomas "Steiner" Wulff drei exponierte Vertreter der Kameradschaftsszene in die Partei eingetreten. Nach Gesprächen mit Udo Voigt und dem damaligen NPD-Vizevorsitzenden Holger Apfel seien sie zu dem Schluss gekommen, dass ein "Neubeginn in der Zusammenarbeit mit der Partei" anstünde. Weiterhin sei das "Konzept Freie Nationalisten eine für die nächsten Jahre dauerhaft arbeitsfähige Basis […] im Widerstand" doch der "Kampf auf parlamentarischer Ebene" sei "zur Zeit ebenso wichtig anzusehen wie der parallel dazu verlaufende [von den parteifreien Kräften geführte, C. S.] Kampf auf der Straße." Mit ihrem Parteieintritt würden die drei Neonazis einen "Brückenschlag" vornehmen und innerhalb der NPD als "Sprachrohr und Ansprechpartner" für parteifreie Kameradschaften fungieren (Heise/Tegethoff/Wulff 2004). Auch das NPD-Parteipräsidium legte dazu eine Erklärung vor. Gegenseitige Abgrenzungen und Distanzierungen hätten in der Geschichte der "nationalen Opposition" in der Bundesrepublik immer wieder zu "politischer Ineffektivität" geführt. Dies habe die Partei erkannt und wolle nun "endgültig den Weg zu einer wirklichen Volksbewegung [einschlagen], bei der die Organisationsform […] eine untergeordnete Rolle spielt" (Parteipräsidium der NPD 2004). Die personellen Ressourcen der Kameradschaften sollten dabei im Interesse der "Gesamtbewegung" für die Partei nutzbar gemacht werden:
"Wir wissen, dass die NPD als verfemte und kriminalisierte Partei heute noch über Mängel verfügt, nicht zuletzt, da sie mancherorts noch nicht über die notwendige Struktur mit effektiver Schlagkraft und nicht immer über Persönlichkeiten mit dem notwenigen politischen Wissen, geschlossenem Weltbild und Führungseigenschaften verfügt. Jeder Nationalist […] ist daher herzlich eingeladen, bei der Schärfung des Profils und der Professionalisierung unserer politischen Arbeit mitzuarbeiten" (Parteipräsidium der NPD 2004).
Heise wurde bald nach seinem Eintritt in den Parteivorstand der NPD gewählt und wirkte dort bis 2011 als Leiter des eigens gegründeten Referats "Verbindung zu freien Kräften". Die Parteieintritte wurden indes nicht in der gesamten Kameradschaftsszenerie begrüßt. Vereinzelt wurden Tegethoff, Wulff und Heise Opportunismus sowie das Schielen auf bezahlte Posten in der Partei vorgeworfen. Wullf selbst schwankte in seiner Einschätzung, ob nicht "parteitaktisches Kalkül" die NPD-Arbeit dominiere, während er selbst die Parlamentsarbeit nur als "ein weiteres Mittel der Propaganda" ansehe (Wulff 2008). Zum Jahreswechsel 2008/2009 verkündete Wulff dann das "Ende der Volksfront" (Wulff 2009). Doch beim Bundesparteitag 2009 in Berlin wurde Udo Voigt mit der Unterstützung offen neonazistischer Kräfte als Parteivorsitzender wiedergewählt. Prompt kam auch Wulff in den neuen Parteivorstand, wenngleich später neue Konflikte ausbrachen, die bis zu Parteiausschlussverfahren gegen Wulff führten.
Anstelle des integrativ ausgerichtetem Udo Voigt war zwischenzeitlich Holger Apfel Bundesvorsitzender der NPD geworden. Im November 2011 setzte sich Apfel mit seiner Kandidatur beim Bundesparteitag im Brandenburgischen Neuruppin gegen Voigt durch. Unter dem Schlagwort des "seriösen Radikalismus" versuchte Apfel, die Partei an manchen Punkten ihrer Agitation neu auszurichten. Er umriss im Interview in der Parteizeitung "Deutsche Stimme" den Begriff des "seriösen Radikalismus" folgendermaßen:
"Mao prägte den Spruch, daß sich der Revolutionär wie ein Fisch im Wasser bewegen muß, wenn er erfolgreich sein will. Es geht um eine zukunftsorientierte und volksnahe Ausrichtung der NPD. Es geht um die Profilierung als Kümmererpartei, um die Verständlichkeit unserer Botschaften und die Vermittlung von Identifikation. Wir dürfen keine Partei von Sektierern und keine Bürgerschrecktruppe sein, dürfen nicht durch Kleidung und Auftreten Selbstausgrenzung betreiben […] Das hat nichts mit Anpassung zu tun […] Ich denke, es gibt aktuell genug politischen Sprengstoff, um ohne ständige Rückgriffe auf die Vergangenheit Klartext zu reden" (Richter 2012: 4).
Einige Monate später konkretisierte er, es ginge nicht darum, "nur noch im Anzug rumzulaufen", sondern um die Vermeidung von einem Auftreten, das "nicht von vornherein sich vom Volksempfinden" entferne:
"Nehmen wir als Beispiel eine kürzliche Szenediskussion: Die NPD-Führung stand bei einigen in der Kritik, weil wir klar gemacht haben, dass wir mit einem Versand mit dem dämlichen Namen ›antisem.it‹ nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Ich bin nun der letzte, der ein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um die verbrecherische Politik des Schurkenstaates Israel geht, ich finde auch die JN-Kampgne ›Israel mordet‹ gut und richtig – wer aber damit kokettiert, ›Antisemit‹ zu sein, ist entweder ein Provokateur oder verwechselt Politik mit einem Abenteuerspielplatz!" (Richter 2013: 3)
"Lebensferne" gelte es zu überwinden, so Apfel an anderer Stelle. "Ohne ständige Vergangenheitsbezüge" solle man den Akzent stärker darauf setzen, eine "Kümmererpartei" zu werden (Apfel 2011: 12).
Statements gegen Politik als Abenteuer und gegen ein "gestriges" Erscheinungsbild sowie "gestrige" Themen wurden in der Kameradschaftsszenerie als Kampfansage verstanden. Seit der Aufdeckung der rassistischen Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" und der wenig später einsetzenden Diskussion um ein erneutes NPD-Verbotsverfahren war Apfel um rhetorische Mäßigung bemüht, was seinem Renomee bei vielen "Kameraden" weiteren Schaden zufügte. Beim NPDAufmarsch zum 1. Mai 2013 in Berlin wurde Apfel von den versammelten Neonazis mit Buhrufen in Empfang genommen. Mit der Rede von Berlin als "Reichshauptstadt" und ähnlichen Formulierungen versuchte er mäßig erfolgreich, die Menge für sich zu gewinnen (Berlin Rechtsaußen 2013).
Beim Bundesparteitag 2013 verteidigte Apfel seinen Bundesvorsitz gegen den kameradschaftsfreundlicheren und vom ex-Bundesvorsitzenden Udo Voigt gestützten Gegenkandidaten Uwe Meenen recht deutlich mit 122 gegen 37 Stimmen. Im Dezember 2013 erfolgte das jähe Ende: Apfel trat überraschend als Parteichef und von allen anderen Parteiämtern zurück, dann aus der Partei aus und verzichtete im Januar 2014 auch auf sein sächsisches Landtagsmandat. Der Rückzug erfolgte aus "gesundheitlichen Gründen" und zusätzlich "verschiedenen Vorwürfen" gegen seine Person (Thomsen 2014). Er habe, so wird kolportiert, einen "Kameraden" sexuell belästigt (Bremer Schattenbericht 2013). Anfang Januar 2014 wurde in Dresden der Fraktionsvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, vom Parteipräsidium zum Interimsvorsitzenden bestimmt. Beim Parteitag im November 2014 im baden-württembergischen Weinheim wurde als Nachfolger der Saarländer Frank Franz mit 86 von 139 Stimmen gewählt. Franz, vormals unter anderem Bundespressesprecher, gehört zum Parteiflügel, der ein weniger martialisches Auftreten der NPD in der Öffentlichkeit durchsetzen möchte. Bei offen neonazistischen Kräften ist er umstritten. Nach seinem Amtsantritt stellte Franz heraus, dass die NPD sich zu "100 Prozent als Wahlpartei" aufstellen müsse und betont damit ausdrücklich die Säule zum
"Kampf um die Parlamente" (Hebel 2014). Bei einem Parteitag thüringischen Kirchheim setzte sich wenig später Udo Voigt als Spitzenkandidat für die aus Parteiperspektive bedeutende Europawahl 2014 durch (NPD 2014). Die NPD erzielte ein Prozent der Stimmen und Voigt zog damit als erster NPDler in das Europaparlament ein. Dieses Ergebnis war ein wichtiger Erfolg für die strauchelnde Partei. Umso mehr gilt dies, weil bei den Landtagswahlen in Sachsen wenige Monate später der Wiedereinzug mit 4,9 Prozent der Stimmen knapp verpasst wurde und die NPD somit eines ihrer langjährigen Kraftzentren verloren hat.
- [1] Mit dem Terminus "Volksfront" bezieht sich die NPD, stets bemüht um die Umdeutung politischer Begriffe, auf ein ab 1935 von der Kommunistischen Internationalen propagiertes antifaschistisches Bündnis von kommunistischen, sozialistischen und linksbürgerlichen Parteien (vgl. Klärner 2008: 77).
- [2] Dass eigens eine weitere Säule eingerichtet wurde, weist auf die Wichtigkeit hin, welche die NPD den neuen Bündnissen zumisst. Eine schlichte Einordnung in den "Kampf um die Köpfe" wäre durchaus möglich gewesen.
- [3] Neu sind solche Kooperationen freilich nicht. 2004 hatten Vertreter von NPD, DVU und Republikanern (letztere ohne Zustimmung ihrer Parteizentrale) als "Nationales Bündnis Dresden" erfolgreich gemeinsam bei Kommunalwahlen kandidiert. Ebenfalls 2004 hatte es eine Vereinbarung zwischen DVU und NPD gegeben, bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen nicht gegeneinander anzutreten – was nicht unwesentlich zu den Wahlerfolgen (6,1 Prozent DVU in Brandenburg; 9,2 Prozent NPD in Sachsen) und somit zur Initiation des "Deutschland-Pakts" beigetragen haben dürfte. Auch schon 1987 – dem Jahr, in dem sich die DVU als Wahlpartei konstituierte – hatte es zeitweise eine Absprache zwischen NPD und DVU gegeben, nach der die Parteien nicht konkurrierend antreten sollen. Die Kleingruppierung "Deutsche Partei" (DP) trat noch im Jahr 2005 ebenfalls dem "Deutschlandpakt" bei. Für die DP waren allerdings keine Kandidaturen auf Landesebene sondern lediglich bei Kommunalwahlen vorgesehen. An die Republikaner gingen – erfolglos – Appelle, sich dem NPD-Bündnis anzuschließen.
- [4] Die immer weiter an Bedeutung verlierenden Republikaner unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Rolf Schlierer (1994–2014) verweigern sich einem solchen Bündnis. Dieser Kurs sorgt in weiten Teilen der Republikaner-Basis für Verstimmung und führt zu weiteren Parteiaustritten. Entgegen der Vorgabe ihrer Parteiführung arbeiten Republikaner mancherorts eng mit der NPD zusammen.
- [5] Einige Beispiele: Baden-Württemberg (NPD von 0,2 Prozent in 2001 auf 0,7 Prozent 2006), Berlin (NPD von 0,9 Prozent in 2001 auf 2,9 Prozent in 2006), Rheinland-Pfalz (NPD 0,5 Prozent in 2001 auf 1,2 Prozent in 2006), Schleswig-Holstein (NPD von 0,0 Prozent in 2000 auf 0,9 Prozent in 2005), Nordrhein-Westfalen (NPD von 1,0 Prozent in 2000 auf 1,9 Prozent in 2005), Bremen (DVU von 2,3 Prozent in 2003 auf 2,7 Prozent in 2007). Auf Bundesebene: NPD von 0,4 Prozent in 2002 auf 1,6 Prozent in 2005.
- [6] Einzelne DVU-Verbände opponierten gegen die Fusion und reichten entsprechende Klagen ein. Erst Mitte 2012 wurde die Fusion rechtsgültig.