Entwicklung einer formalen Theorie zum Enthusiasmus
Das vorangegangene Kapitel zur Leidenschaft hat bereits auf die abstraktere Ebene des ME hingedeutet, denn Leidenschaften können sich selbstverständlich nicht nur für Musik, sondern auch für alle anderen Interessenbereiche entwickeln. Nachdem eine Typologie für den ME im musikpädagogischen Kontext aufgestellt ist, wird nun im Sinne der Bildung einer formalen Theorie aus der aufgestellten materiellen Theorie nach Glaser & Strauss eine allgemeine Typologie zum Enthusiasmus aufgestellt. Dieser Schritt zur Entwicklung einer formalen Theorie bildet sich aus der bisher entwickelten materiellen Theorie des ME heraus und beinhaltet ein höheres Abstraktionsniveau.
Die folgende Typologie soll anhand von beispielhaften Situationen außerhalb des pädagogischen Kontextes erläutern, welche Situationen, allgemein gesprochen, für ein Individuum in seiner Erfahrung mit oder Wahrnehmung von einem Objekt einen ausgelösten Enthusiasmus beschreiben. Zur Verdeutlichung wurde jeder Enthusiasmus benannt, jedoch ist dieses eher beispielhaft zu verstehen, da die Typen durch die Dimensionalisierung auch auf Situationen mit der Erfahrung von anderen Objekten anzuwenden sind.
Die ausgewählten Situationen aus dem Alltag sollen leicht verständlich sein. Für die weitere wissenschaftliche Belegung bedarf es für diese Theorie weiterer Empirie, da sie auch anderen intervenierenden Bedingungen unterliegen können als es für den ME im pädagogischen Umfeld der Fall ist.
Präsentation der Typologie zum Enthusiasmus
Typ 1: Merkmalsraum:
-7 Der Genuss
Der Typ beschreibt eine Situation, in der das Individuum aufgrund der Kenntnis seiner Vorlieben ein Objekt bewusst erfährt. Das Individuum ist sich darüber bewusst, dass es während der Erfahrung des Objektes einen zeitlich begrenzten, kurzzeitigen begeisternden Genuss erlebt oder noch erleben wird. Diese Begeisterung für etwas deutet auf eine gute Kenntnis des eigenen Selbstkonzeptes und der eigenen Vorlieben hin. Der kurzzeitige Genuss ist durch eine kurze Existenz des Objektes wie Essen, Düfte oder andere erlebte Genüsse gekennzeichnet. Diese sinnhafte Erfahrung verbindet im Moment des Genusses auch das Subjekt und Objekt zu einer Einheit, in der Zeit und Raum vergessen werden.
Typ 2: Merkmalsraum:
-7 Enthusiasmus der individuellen Präferenz
Dieser Typ wird im Gegensatz zu Typ 1 durch eine Situation beschrieben, die immer wieder vom Individuum hervorgerufen wird. Auch hier wird vorausgesetzt, dass das Subjekt sich über das Objekt als Teil seines Selbstkonzeptes bewusst ist. Ein intensives Hobby ist ein Beispiel für eine individuelle Präferenz. Oftmals wird von ‚großer Freude' und ‚Spaß' gesprochen, wenn das Individuum etwas präferiert. Es setzt einen längeren Zeitraum voraus, aufgrund dessen die Situation auch öfter, regelmäßig und bewusst vom Individuum erfahren wird. Dieser Typ ist bei der Auslebung einer Leidenschaft vorhanden, da hier ein dauerhaftes Interesse an einem Objekt (eine Freizeitbeschäftigung / ein Hobby) zu dieser führt. Die Auseinandersetzung mit einem Objekt wird durch eine kontinuierliche Auslösung des Enthusiasmus für ein Objekt beim Individuum immer wieder neu genährt, was zu einer andauernden und individuellen Präferenz führt.
Typ 3: Merkmalsraum:
-7 Der Moment der Überraschung
„Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so sehr gefallen würde“. Das ist eine frei erfundene Aussage, die aus dem Alltag jedoch vermutlich jedem Leser bekannt ist. Der Typ 3 steht für einen Zugewinn an neuer Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, da das Individuum in einer Situation, die unbewusst und daher von außen herbeigeführt wurde, eine nicht vorhersehbare Faszination im Sinne einer Begeisterung für ein Objekt erlebt. Die unbewusste Herbeiführung bedeutet auch, dass entweder das Individuum durch jemand anderes von außen oder durch Zufall – jedenfalls nicht bewusst und selbst herbeigeführt – zum Objekt hingeleitet wird, was den Moment der Überraschung definiert.
Typ 4: Merkmalsraum:
-7 Liebe auf den ersten Blick
Auch wenn sich dieser Typ mit seiner Definition etwas kitschig anhören mag, so verdeutlicht diese am besten seine Charakteristik. Ohne eine bewusste Herbeiführung oder Einwirkung des Individuums erfährt es einen andauernden Enthusiasmus für ein Objekt. Eine kontinuierliche Beschäftigung in der Zukunft ist die Konsequenz der ausgelösten Begeisterung. In der Konsumindustrie ist dieser ausgelöste Enthusiasmus beispielsweise ein wichtiger Teil der Kaufstrategie:
‚Ich habe das gesehen, und musste das sofort kaufen!'. Das Subjekt erfährt einen intensiven und unvorhersehbar ausgelösten Enthusiasmus durch ein Objekt. Im Gegensatz zu Typ 3 besitzt dieser Typ 4 nach der Auslösung das Potenzial eines langzeitig ausgelösten Enthusiasmus für das Objekt beim Individuum.
Typ 5: Merkmalsraum:
� Die geteilte Leidenschaft
Ebenso wie in der Typologie innerhalb der materiellen Theorie, zeichnen sich die folgenden Typen 5-8 durch einen Enthusiasmus für etwas aus, den das Individuum gemeinsam mit anderen in der Gruppe erfährt.
Der Typ 5 findet sich in vielen gängigen Mannschaftsund Gruppenformationen als ein geteilter, langandauernder und regelmäßig erlebter Enthusiasmus als Teil der eigenen Leidenschaft für etwas wieder. Hierzu zählen beispielsweise Mitglieder eines Fußballvereins und ihr gemeinsam erlebter Enthusiasmus für eine Mannschaft oder die Vereinsmitgliedschaft. Aufgrund des regelmäßigen Erlebens dieses Enthusiasmus ist er für jedes Individuum identitätsprägend. Die (hier regelmäßig geteilte) Leidenschaft ist oftmals über viele Entwicklungsphasen hinweg ein stetiger Begleiter, der das eigene Selbstkonzept definiert.
Typ 6: Merkmalsrau
-7 Die Fanveranstaltung
Bei begeisterten Besuchern einer Veranstaltung lässt sich dieser Typ in vielen Situationen feststellen. Die Gruppe, bestehend aus vielen Anhängern, die bewusst an einer gemeinsamen Veranstaltung teilnehmen, alle ein gemeinsames Interesse an dem vorgetragenen Programm besitzen und in der Erwartung sind, einen für kurze Zeit ausgelösten Enthusiasmus gemeinsam zu erleben. Sie besuchen bewusst diese Veranstaltung, was eine erhöhte Kenntnis der eigenen Vorlieben und Interessen aller Anhänger voraussetzt. Der geteilte Enthusiasmus prägt die vorherrschende Atmosphäre, lässt die Zeit zu einem besonderen Ereignis werden und nährt im Umkehrschluss anschließend vermutlich wieder den Enthusiasmus jedes Einzelnen.
Typ 7: Merkmalsraum:
-7 Zufällige Gruppenbegeisterung
Typ 7 kommt außerhalb eines pädagogischen Kontextes vermutlich nur selten vor. Im Gegensatz zur Schulklasse (die eine konstante Gruppe über Jahre für den Schüler bildet) kommt es im Alltag nicht oft vor, dass eine Person zusammen mit anderen in einer von den Teilnehmern nicht bewusst formierten Gruppe einen kurzzeitigen Enthusiasmus erlebt. Ein Beispiel wäre hierfür die spontane Unterhaltung einer zufälligen Gruppierung durch Straßenmusiker oder eine geführte Touristengruppe. Die Teilnehmer haben durch ihre Teilnahme an der Gruppe keinen Einfluss auf die Gruppe, jedoch teilen sie für einen kurzen Moment einen Enthusiasmus für etwas gemeinsam. Sie werden von außen kurzzeitig durch etwas animiert und unterhalten. Durch diesen Enthusiasmus jedes einzelnen Teilnehmers entsteht schnell eine zufällige Gruppe, die kurzzeitig und oft per Zufalleinen gemeinsamen Enthusiasmus erlebt. Diese gemeinsame Erfahrung des kurzzeitig erlebten Enthusiasmus bleibt oftmals noch länger im Gedächtnis der Teilnehmer.
Typ 8: Merkmalsraum:
-7 Der Teamgeist
Bei diesem Typ handelt es sich um einen besonderen Fall, da er in der vorangegangenen Studie nicht vorkommt und daher bisher nur theoretisch als Teil der aufgestellten Theorie beschrieben, nicht aber empirisch belegt werden kann. Außerhalb der Schule als Kontext lässt sich jedoch vermuten, dass dieser Typ existiert und beispielsweise besonders für Unternehmen bedeutend sein könnte. So ist der in einer Gruppe aufkommende Enthusiasmus, der gemeinsam erlebt wird und in dieser Gruppe andauert, jedoch nicht bewusst von den Mitgliedern hervorgerufen wurde, in der Schule vielleicht nicht existent, im Berufsalltag jedoch schon. In jedem „Team-Building“-Seminar wird durch einen externen Seminarleiter versucht, diesen Enthusiasmus durch eine Aktivität mit der Gruppe auszulösen, um so den ‚Teamgeist' zu wecken, zu beleben und zu stärken – im besten Fall mit einer langandauernden Wirkungsweise, durch die sich das Unternehmen eine positive Auswirkung auf die Motivation und Disziplin der Mitarbeiter verspricht. Wie man merkt, geht dieser Typ stark in die Psychologie (Personalentwicklung) und bedürfte einer genauen Analyse der Bedingungen, um den ausgelösten Enthusiasmus und seine möglichen Auswirkungen auf Mitarbeiter in Unternehmen spezifisch zu untersuchen. Ein ausgelöster oder bereits existenter und noch mehr geförderter Enthusiasmus in der Gruppe durch eine Schulung oder einen Betriebsausflug ist jedoch in jedem Falle positiv zu deuten. Diese Aktivitäten schulen die von außen formierte Gruppe (Team), in der jeder seinen eigenen Enthusiasmus hinzufügt und das Team durch diese Erfahrung eines gemeinsamen Enthusiasmus auch eine gemeinsame Entwicklung vollzieht.
Abbildung 34: Modell der acht möglichen konstruktiven Typen des Enthusiasmus