Theoretischer Rahmen

In diesem Kapitel werden verschiedene theoretische Angebote vorgestellt und daraufhin abgeklopft, inwieweit sie hilfreiche analytische Perspektiven mit Blick auf die Forschungsfrage bieten. Das erste Unterkapitel widmet sich verschiedenen Theorien der Politikwissenschaft, die analytische Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Staat und Drittem Sektor und damit auch zwischen den hier im Fokus stehenden öffentlichen und freien Trägern in der Jugendhilfe bieten. Dem schließt sich im darauf folgenden Unterkapitel ein Überblick über ausgewählte Elemente verschiedener organisationssoziologischer Perspektiven an, die helfen die Beziehung in ihrem spezifischen gesellschaftlichen Kontext zu verstehen.

Politikwissenschaftliche Perspektiven auf die Beziehung von Staat und Drittem Sektor

In diesem Unterkapitel werden die unterschiedlichen analytischen und theoretischen Zugänge zur Beziehung zwischen öffentlichen und freien Trägern und damit zwischen Staat und dem Dritten Sektor dargelegt. Konzeptionell knüpft die zu untersuchende Fragestellung an folgende politikwissenschaftliche Diskussionsstränge an:

Ÿ Dritte-Sektor-Ansatz

Ÿ Wohlfahrtspluralismus-Ansatz

Ÿ Governance-Ansatz

Ÿ Korporatismus-Ansatz.

Bei der Darstellung dieser Diskussionsstränge wird im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Staat (Jugendamt) und Drittem Sektor (freien Trägern) in der Wohlfahrtsproduktion gelegt. Die Zusammenfassung stellt die verschiedenen politikwissenschaftlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand noch einmal vergleichend dar.

Dritte-Sektor-Ansatz

Der Dritte-Sektor-Ansatz steht nicht für eine eigenständige Theorie, sondern stellt ein heuristisches Modell zur Erfassung der Non-Profit-Organisationen (NPO) zwischen Markt und Staat und ihrer Besonderheiten dar (vgl. Zimmer/ Priller 2005, 50). Sowohl der Begriff als auch der Forschungsansatz haben ihren Ursprung in den USA. Der Soziologe Etzioni wies in den 1970er Jahren erstmals darauf hin, dass weder die selbst steuernden Kräfte des Marktes noch des expandierenden Staates eine Lösung für die gesellschaftlichen Probleme bei der Umgestaltung des Wohlfahrtsstaates darstellen können, es aber eine Alternative gebe:

„While debate over how to serve our needs has focused on the public versus the private alternative, a third alternative, indeed sector has grown between the state and the market. Actually this third sector may well be the most important alternative for the next few decades, not by replacing the other two, but by matching and balancing their important roles.” (Etzioni 1973, 315)

Es gibt verschiedene wissenschaftliche Zugänge zum Untersuchungsgegenstand des Dritten Sektors bzw. der Dritte-Sektor-Ansatz zeichnet sich durch eine hohe Anschlussfähigkeit an unterschiedlichste Debatten in den Disziplinen Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften aus (vgl. Zimmer 2007, 186). Die Wirtschaftswissenschaften befassen sich insbesondere mit der Existenzbegründung von NPO. Danach gibt es NPO aufgrund von gleichzeitigem Staatsund Marktversagen. Den NPO wird dabei zugeschrieben, komparative Vorteile gegenüber staatlichen Akteuren und Unternehmen zu haben. Der Transaktionskostenansatz erklärt die Existenz von NPO damit, dass sie aufgrund ihrer besonderen Vertrauenswürdigkeit Vertrauensgüter im Vergleich zum Staat und den Unternehmen kostengünstiger erbringen. Entrepreneurship-Theorien erklären das Entstehen von NPO vor dem Hintergrund ihres unternehmerischen Verhaltens. Die ökonomischen Ansätze vernachlässigen jedoch zentrale Besonderheiten der NPO. So kritisiert z.B. Young, der sich mit unterschiedlichen ökonomischen Ansätzen zur Erklärung der Beziehung zwischen Staat und Drittem Sektor befasst, dass diese deren „advocacy role“ nicht adressieren (vgl. Young 2000, 155). Vor diesem Hintergrund schlägt er folgende Differenzierung vor:

„In particular, different strands of theory support the alternative views that nonprofits

(a) operate independently as supplements to government,

(b) work as complements to government in a partnership relationship, or

(c) are engaged in an adversarial relationship of mutual accountability with government.” (Young 2000, 149)

Die Differenzierung versteht er dabei als eine analytische. Denn nach Young kann ein und dieselbe Organisation gleichzeitig alle drei Rollen einnehmen und sowohl eine ergänzende sowie komplementäre als auch oppositionelle Rolle gegenüber dem Staat einnehmen. Gerade die Rollenvielfalt nimmt in der deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Organisationen des Dritten Sektors einen breiten Raum ein. Vielfach ist dabei von einer ‚Multifunktonalität' die Rede, wobei insbesondere den Wohlfahrtsverbänden unter den Organisationen des Dritten Sektors zugeschrieben wird die folgenden von Sachße entwickelten vier idealtypischen Formen gleichzeitig zu verkörpern (vgl. Merchel 2011, 248):

Ÿ Mitgliedsorganisationen als korporativ strukturierte Personenverbände, in denen Mitglieder sich im Sinne einer reziproken Eigenaktivität gemeinsam für ein Anliegen engagieren,

Ÿ Interessenorganisationen, die gesamtgesellschaftliche Interessen oder die Interessen spezifischer Gruppen vertreten,

Ÿ Dienstleistungsorganisationen mit Angeboten für die eigenen Mitglieder oder einen breiten Kreis von Klienten,

Ÿ Förderorganisationen mit dem Ziel, materielle Ressourcen für gemeinnützige Zwecke zu sammeln (vgl. Sachße 2004, 74 f.).

Angesichts dieser Multifunktionalität der NPO gibt es unterschiedliche politikwissenschaftliche Zugänge und Schwerpunkte bei der Erforschung des Dritten Sektors (vgl. Zimmer 2007, 186 f.): Die verwaltungswissenschaftliche und policy-analytische Sicht auf den Sektor und seine Organisationen fokussiert auf ihre Rolle als Partner des Staates in der wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungserbringung. Hier gibt es Schnittstellen zum Wohlfahrtspluralismusund Korporatismus-Ansatz (siehe Kap. 2.1.2 und 2.1.4). Daneben gibt es eine demokratietheoretische Sicht auf die NPO und ihre Rolle als Interessenvertreter, die sich auch mit dem ‚Wie' des Regierens befasst und damit Schnittstellen zum Governance-Ansatz (siehe Kap. 2.1.3) aufweist.

 
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