Wiedervereinigung und der Institutionentransfer von West nach Ost

Die Bundesregierung der BRD entschied sich nach dem Mauerfall für eine konsequente Übertragung wohlfahrtsstaatlicher Konzepte von West nach Ost. Zentrale Akteure waren dabei die Bundesregierung sowie das Bundesministerium für Familien und Senioren (BMFuS) (vgl. Olk 1996, 194). Diese suchten für den Institutionenaufbau gezielt die Unterstützung nicht-staatlicher Akteure, auch die der Wohlfahrtsverbände (vgl. Angerhausen et al. 2002, 15). Das Kooperationsgesuch der Bundesregierung fand bei den Spitzenverbänden der Wohlfahrtspflege große Zustimmung. Sie erhofften sich vor allem eine Stärkung ihrer Position und für die Expansion nach Ostdeutschland zusätzliche öffentliche Mittel (vgl. Angerhausen et al. 2002, 22). So begann mit kurzer Verzögerung neben dem staatlichen auch ein verbandlicher Institutionentransfer von West nach Ost. Dabei hatten die Caritas, Diakonie und das DRK durch ihre Vorläuferorganisationen in der ehemaligen DDR Vorteile gegenüber den anderen Wohlfahrtsverbänden oder auch verbandsunabhängigen freien Trägern. Die AWO und der Paritätische Wohlfahrtsverband standen in den neuen Bundesländern vor dem völligen Neuaufbau.

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Damit galt zum einem gem. Artikel 8 des Einigungsvertrages in den neuen Bundesländern Bundesrecht. Zum anderen wurden alle bestehenden Gesetze der DDR außer Kraft gesetzt (vgl. BMFSFJ 1994, 310). Zeitgleich trat in Ostdeutschland mit dem SGB VIII ein neues Kinderund Jugendhilfegesetz in Kraft, das ab dem 1.1.1991 auch in Westdeutschland Geltung hatte (vgl. Boeßenecker 2005, 20).

Da die Wohlfahrtsverbände zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung öffentlich und politisch unter Druck standen, nutzten sie die mit dem Institutionentransfer verbundenen Chancen. Mit Verweis auf Art. 32 des Einigungsvertrages vertraten sie z.B. konsequent den Standpunkt, in Ostdeutschland seien die öffentlichen Verwaltungen verpflichtet, soziale Dienste und Einrichtungen an die Verbände zu übertragen und die Freie Wohlfahrtspflege zu fördern (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 1993). Die Verbände konnten sich dabei auf die mit den §§ 3, 4 im KJHG garantierten Prinzipien der Pluralität und Subsidiarität berufen, die nun auch für die neuen Bundesländer galten (vgl. BMFSFJ 1994, 321).

Doch der Aufbau einer pluralen, freien Trägerlandschaft verlief in den neuen Bundesländern zunächst langsamer, als von der Politik erhofft. Den Ländern und kommunalen Haushalten fehlten vor allem in der Anfangsphase die finanziellen Mittel. 1990/91 befanden sich in Ostdeutschland ca. 6 % aller Einrichtungen in freier Trägerschaft und 94 % in öffentlicher Trägerschaft, während in den alten Bundesländern fast 69 % aller Einrichtungen von freien Trägern und nur 30 % von öffentlichen Trägern geführt wurden. Bis 1994 stiegt der Anteil der freien Träger in Ostdeutschland allerdings auf fast 27 % und erhöhte sich bis 1998 sogar auf 47 %. Heute hat sich das Verhältnis weitgehend angeglichen. In der quantitativen Jugendhilfeforschung geht man heute davon aus, dass „eine einfache Gegenüberstellung zwischen einer Jugendhilfe-West und JugendhilfeOst […] sich zum größten Teil überlebt [hat]“ (Rauschenbach/Schilling 2011, 44). Rückblickend betrachtet gehörten die freien Träger damit auch in Ostdeutschland schnell zum Organisationsprinzip der Jugendhilfe. Damit stellte Subsidiarität – zumindest hinsichtlich der Anzahl freier Träger – auch in Ostdeutschland bereits Ende der 1990er Jahre das zentrale Organisationsprinzip in der Jugendhilfe dar (vgl. Pluto et al. 2007, 303).

Tabelle 2: Einrichtungen der Jugendhilfe differenziert nach Trägern in Prozent

Einrichtungen 1990/91

Einrichtungen 1994

Einrichtungen 1998

Einrichtungen 2010/11

West

Ost

West

Ost

West

Ost

West

Ost

öffentliche Träger

29,8

94,1

30,9

73,0

30,7

52,0

28,3

35,0

freie Träger

51,2

5,9

58,5

26,8

63,1

47,0

69,5

62,9

privatgewerbliche Träger

1,1

0

0,8

0,2

1,4

1,0

2,2

2,2

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinderund Jugendhilfe – Kindertagesbetreuung und Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe; verschiedene Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung: Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik[1] (BMFSFJ 2002, 66; 2013, 286 f.)

Es gibt allerdings Unterschiede in Ost und West mit Blick auf die Relevanz der einzelnen Verbände und Akteure. Denn die Spitzenverbände hatten im Wettbewerb mit kleineren Einrichtungen in freier Trägerschaft klare Vorteile bei der Expansion nach Ostdeutschland. Sie verfügten zum einen über gute Kontakte zur Bundesregierung und dem zuständigen BMFuS (vgl. Angerhausen et al. 2002, 60). Darüber hinaus hatten sie Vorteile beim Zugang zu Fördermitteln durch bessere Kenntnisse über die verschiedenen Bezuschussungsmöglichkeiten (vgl. BMFSFJ 1994, 339). Ein Blick in die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigt außerdem, dass es insbesondere dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Ostdeutschland innerhalb weniger Jahre gelang, eine bedeutende Stellung einzunehmen. Bereits 1994 lag der Anteil bei 15 %. Gründe hierfür lagen im Eintritt der VS, aber auch vieler kleinerer Organisationen in diesen Verband (vgl. Grohs 2010a, 146 ff.). Die ‚sonstigen anerkannten Träger', die nicht den Spitzenverbänden angehören, konnten in Ostdeutschland einen konstanten Anstieg ihres Anteils von 1994 bis 2006 verbuchen (von ca. 20 % auf ca. 30 %), während ihr Anteil in Westdeutschland im selben Zeitraum relativ konstant bei ca. 20 % blieb. Es fällt außerdem auf, dass neben dem Paritätischen auch die anderen Wohlfahrtsverbände in Ostdeutschland schnell zu wichtigen Leistungserbringern wurden, ihr Stellenwert im Vergleich mit Westdeutschland jedoch deutlich geringer blieb (im Jahr 2006: Ost: 26 %; West: 45 %).

Anhand der quantitativen Trägerdaten lässt sich jedoch nicht feststellen, ob die Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und freien Trägern in Ostdeutschland auch derjenigen in Westdeutschland ähnelt oder nicht. Für die frühen 1990er Jahre gab es zu dieser Fragestellung einzelne Studien. So haben z.B. Glawik et al. ostdeutsche Jugendhilfeausschüsse analysiert und eine geringe Präsenz freier Träger in diesem Gremium festgestellt (vgl. Gawlik et al. 1995, 164 f.). Die Studie auf Basis von Erhebungen aus dem Jahr 1993 zeigt außerdem eine geringere Bereitschaft der öffentlichen Hand mit freien Trägern zusammenzuarbeiten (vgl. Gawlik et al. 1995, 168). Angerhausen et al. stellen auf Basis von qualitativen und quantitativen Erhebungen in den Jahren 1992 und 1993 fest, dass es in Ostdeutschland andere Vorstellungen über die Rollen und Aufgabenteilung von öffentlicher Verwaltung und freien Trägern gibt (vgl. Angerhausen et al. 1994; Angerhausen et al. 1997; Angerhausen et al. 2002). Während es z.B. zum Selbstverständnis der westdeutschen Wohlfahrtsverbände gehört, im Sinne verbandlicher Autonomie eigene Aufgabenschwerpunkte in der inhaltlichen Arbeit zu setzen, verfolgen die Wohlfahrtsverbände in Ostdeutschland kaum selbstgesetzte Ziele und verstehen sich primär als Leistungserbringer der öffentlichen Hand (vgl. Angerhausen et al. 1994, 14 f.). Die freien Träger wurden als „Juniorpartner“ des Staates gesehen, als „öffentliche Versorgungsbetriebe“ in Abgrenzung zu „unabhängige[n], wertbezogene[n] und auf bürgerschaftliches Engagement aufbauende[n] Assoziationen“ (Angerhausen et al. 1997, 8). Anhand von vier ausgewählten Untersuchungsregionen zeigt außerdem Olk in einer zwischen 1992 und 1996 durchgeführten Studie, dass die Tatsache, ob öffentliche Aufgaben – wie es der DDR-Tradition entsprach – vorrangig in kommunaler Hand blieben oder aber an freie Träger delegiert wurden, maßgeblich von den Leitungsund Führungspersonen der öffentlichen Sozialverwaltung und ihren ordnungspolitischen Überzeugungen abhing (vgl. Olk 1996). Er betont, dass es keineswegs „eine breite Unterstützung und positive Bewertung des Subsidiaritätsdenkens der ostdeutschen Bevölkerung“ (Olk 1996, 210) gab. Dies macht deutlich, dass mit dem staatlichen und verbandlichen Institutionentransfer von West nach Ost zwar formale Strukturen, nicht jedoch deren informelle Bestandteile in Form von über viele Jahre gewachsenen Normen und eingelebten Verhaltensund damit auch Beziehungsmustern übertragen wurden. In Westdeutschland wurde in den 1990er Jahren zwar kontrovers über die Aufgaben von Staat und freien Trägern in der Wohlfahrtsproduktion diskutiert. Doch es bestand dessen ungeachtet ein subsidiäres Selbstverständnis in den Verwaltungen und bei den freien Trägern, das weitgehende Akzeptanz in der Bevölkerung und politische Unterstützung genoss (vgl. Angerhausen et al. 1997, 8 f.). Ein derartiges Selbstverständnis gab es in den neuen Bundesländern weder bei den Akteuren aus Politik und Verwaltung noch bei den freien Trägern. Das wissenschaftliche Interesse an einer vergleichenden Betrachtung der Beziehung ist jedoch Ende der 1990er Jahre abgeebbt. Es fehlt dementsprechend an aktuelleren Studien und damit Erkenntnissen zur Frage der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Beziehung in Ost und West.

  • [1] Wenn Prozentzahlen im Fließtext, z.B. im Zusammenhang mit der Darstellung der Trägerstruktur in der Jugendhilfe, genannt werden, sind diese immer gerundet. In den Tabellen wird immer eine Stelle hinter dem Komma zusätzlich angegeben.
 
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