Die Einführung des KJHG und der §§ 78a bis 78g SGB VIII
Der Institutionentransfer von West nach Ost wurde dadurch geprägt, dass sich auch die Jugendhilfe in Westdeutschland im Umbruch befand. Das neue KJHG brachte 1990 bzw. 1991 einen fachlichen Perspektivwechsel, weg von der Eingriffsverwaltung hin zu einer Dienstleistungsagentur, die die individuellen Rechte der Leistungsberechtigten in den Mittelpunkt rückte und die Strukturmaxime einer lebensweltorientierten Jugendhilfe ins Leben rief. Neben vielen damit einhergehenden fachlichen Neuerungen brachte es auch Veränderungen für das Verhältnis öffentlicher und freier Träger mit sich, denn es läutete die Abkehr vom bisherigen verbändezentrierten Subsidiaritätsverständnis ein: Während das JWG (§ 5 Abs. 4) ausschließlich Verbände und Kirchen als freie Träger eingestuft hatte, waren nun unabhängige Vereine, Initiativen und Projekte den Verbänden und Kirchen gleichgestellt (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2000, 14). Damit wurde die Trägerlandschaft nicht nur pluralisiert, sondern auch Trägerkonkurrenz eingeführt (vgl. Buestrick/Wohlfahrt 2008, 20).
Der rechtliche Status der freien Träger der Wohlfahrtspflege wurde weiter durch die Neufassung der §§ 78a bis 78g SGB VIII (Vereinbarungen über Leistungsangebote, Entgelte und Qualitätsentwicklung) im Jahr 1999 verändert. Die Kommunalen Spitzenverbände (Deutscher Städtetag, Deutscher Landkreistag, Deutscher Städteund Gemeindebund) und die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) hatten sich im Zuge der Verwaltungsreform schon zuvor für die freiwillige Einführung einer einheitlichen Vertragsfinanzierung in der Jugendhilfe eingesetzt (siehe hierzu das nächste Kap. 3.6). Mit den §§ 78a bis 78g wurden Leistungsvereinbarungen über Kosten und Qualität zwischen öffentlichen und freien Trägern für die stationären und teilstationären Jugendhilfeleistungen nun jedoch verbindlich und lösten die bisherige retrospektiv orientierte Zuwendungsfinanzierung über Selbstkostendeckung ab (zum Inhalt des Gesetzes siehe Kap. 4.5). Das neue Gesetz definierte außerdem die privat-gewerblichen Träger nun auch als ‚freie Träger' (siehe auch Kap. 4.2). Dieses modifizierte Subsidiaritätsprinzip ermöglichte damit auch den privatgewerblichen Anbietern den Marktzugang. Die Trägerlandschaft wurde durch die Novellierung insgesamt pluralisiert und neuen Steuerungsmodi unterworfen. Für die bisherigen freien Träger bedeutete dies letztlich eine staatlich verordnete Konkurrenz (siehe auch Backhaus-Maul/Olk 1994, 130; vgl. Bäcker et al. 2008, 545). Übergreifende Ziele des Gesetzgebers waren dabei die Schaffung von mehr Transparenz hinsichtlich der Leistungs-Kosten-Relation, darüber hinaus die Freisetzung von Effektivitätsund Effizienzreserven bei den Leistungserbringern durch stärkeren Wettbewerb und letztendlich die Dämpfung der Kostenentwicklung in der Jugendhilfe (vgl. BMFSFJ 2002, 48; Dahme et al. 2005, 42; Messmer 2007, 9 f.; Struzyna 2007).
In der Folge wurden zwei eng miteinander verbundene Aspekte in der Fachpraxis ebenso wie in der Fachwissenschaft breit diskutiert und kommentiert: die sich aus den Gesetzesänderungen ergebenden Konsequenzen a) für die Wohlfahrtsverbände und ihre Stellung in der Jugendhilfe sowie b) für die Beziehung zwischen öffentlicher Hand und allen Leistungserbringern. Nach Olk und Speck sind die Veränderungen „Ausdruck eines gestiegenen Steuerungsinteresses der öffentlichen Träger gegenüber den freien Trägern“ (Olk/Speck 2008, 80). Nach Merchel wirkt der öffentliche Träger mit der „Definition konkreter Leistungserwartungen“ nun mehr als zuvor steuernd auf die freien Träger ein und „das traditionelle Verständnis von Trägerautonomie [werde dadurch] brüchig“ (Merchel 2002b, 52). Die Novellierung stehe zudem für eine weitere „Aufweichung des traditionellen Korporatismus hin zu einer Pluralisierung der Trägerstrukturen“ (Merchel 2002b, 39). Dahme et al. diagnostizieren:
„Sowohl durch Wettbewerb als auch durch Kontraktmanagement wird dabei aus den bisherigen Beziehungen partnerschaftlichen Zusammenwirkens zwischen sozialstaatlichen Akteuren und freien Verbänden ein Verhältnis von Auftraggebern und Auftragnehmern“ (Dahme et al. 2005, 54).
Wiesner dagegen betont, dass „die freien Träger nie Auftragnehmer der öffentlichen Träger [waren], sondern in ihrer Aufgabenbestimmung autonom“ (Wiesner 2008, 30), und hebt die nach wie vor geltende Handlungs-, Dienstleistungsund Vereinigungsfreiheit als Grundlage für ihre Tätigkeit hervor. Hermsen und Weber kritisieren, die Freie Wohlfahrtspflege laufe nun Gefahr, „den letzten Rest ihrer autonomen Zielformulierungsund Zielverwirklichungsspielräume einzubüßen“ (Hermsen/Weber 1998, 61), während Lange meint, dass die neuen Finanzierungsformen vertragliche Vereinbarungen in einem (relativ) gleichwertigen Vertragsverhältnis darstellen (vgl. Lange 2001, 57). Messmer wiederum ist der Ansicht, selbst wenn der Gesetzgeber ein gleichrangiges Beziehungsverhältnis voraussetze – was er selbst aber aufgrund der beim Jugendamt liegenden Gesamtverantwortung dementiert –, die
„realen Beziehungen beider Seiten sind nicht symmetrisch, sondern im Sinne von Angebot und Nachfrage komplementär […]. Bedenkt man die am Markt orientierte Vereinbarungsphilosophie dieser Gesetzesnovelle, so ist klar, dass generell diejenige Seite daraus Vorteil zieht, deren Tauschgüter marktbedingt knapp sind. Augenblicklich ist Geld das vorherrschende Gut“ (Messmer 2007, 40).
Er lenkt damit den Blick von der reinen juristischen Seite auf die faktische Machtbeziehung in einem durch Wettbewerb geprägten Markt. Die Diagnosen stehen beispielhaft für eine durch die §§ 78a bis 78g ausgelöste Kontroverse darüber, inwieweit die Gesetzesnovellierung die Stellung der Wohlfahrtsverbände und die Beziehung zwischen Jugendamt und freien Trägern verändert hat. Der Forschungsstand zu dieser Fragestellung wird in Kapitel 5.2 vorgestellt.