Stand der Forschung

Dieses Kapitel gibt den Forschungsstand mit Blick auf die Beziehung zwischen Jugendamt und freien Trägern in der Jugendhilfe wieder. Die Darstellung und Diskussion widmet sich verschiedenen Facetten der Beziehung. Zunächst wird beleuchtet, wie sich das Gefüge öffentlicher und freier Träger in der Jugendhilfe bzw. dem Bereich der Hilfen zur Erziehung darstellt und inwieweit die vom KJHG intendierte Pluralisierung als Voraussetzung für Wettbewerb die Jugendhilfelandschaft prägt. Anschließend werden der Umsetzungsstand und die Konsequenzen der Leistungsvereinbarungen für die Beziehung beschrieben. Erkenntnisse über die Zusammenarbeit in der Jugendhilfeplanung und bei der Hilfeplanung im Einzelfall werden darauf folgend wiedergegeben. Ein gesondertes Unterkapitel ist schließlich den Handlungsstrategien der freien Träger in der Jugendhilfe gewidmet, nachdem vorausgehend bereits ein Überblick über die Modernisierungsstrategien der freien Träger im Bereich der Sozialen Dienste gegeben wurde (siehe Kap. 3.8). Die Zusammenfassung stellt den Stand der Forschung noch einmal komprimiert dar und wird dabei insbesondere das Variationsspektrum der Beziehung in den Blick nehmen.

Sowohl die Wohlfahrtsstaatsforschung als auch die Verwaltungsund Dritte-Sektor-Forschung sowie organisationsbezogene Jugendhilfeforschung befassen sich mit der Beziehung öffentlicher und freier Träger in der Jugendhilfe. Es gibt daneben vereinzelt Studien, die sich der Umsetzung des KJHG aus juristischer Perspektive widmen. Die folgende Darstellung nutzt diejenigen quantitativen und qualitativen Studien, die sich auf einzelne Facetten der Beziehung beziehen, z.T. aber auch Erkenntnisse für mehrere der oben genannten Themenbereiche bieten. Dementsprechend werden einige Studien für mehrere Unterkapitel herangezogen.

Die Trägerlandschaft

Seit 1991 gibt es eine amtliche Kinderund Jugendhilfestatistik, die in ganz Deutschland nach einheitlichen Kriterien Daten über die Maßnahmen der Jugendhilfe, die Einrichtungen und dort tätigen Personen sowie Ausgaben und Einnahmen erhebt. [1] Diese werden u.a. von der Dortmunder Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik ausgewertet. [2] Für die Statistik ‚Einrichtungen und tätige Personen der Kinderund Jugendhilfe' wird alle vier Jahre eine Vollerhebung durchgeführt. Daneben dokumentiert und analysiert das Projekt ‚Jugendhilfe und sozialer Wandel' des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in wiederholten Erhebungen bei öffentlichen und freien Trägern auf örtlicher Ebene die Strukturen der Jugendhilfe. [3] Mittlerweile geben fünf bundesweite Erhebungswellen Einblicke in verschiedene Bereiche der Jugendhilfe (siehe Seckinger et al. 1998; Santen et al. 2003; Pluto et al. 2007; Gadow et al. 2013). Während Jugendämter und Jugendverbände in der fünften und damit letzten Erhebungswelle 2008/09 befragt wurden, wurden die Geschäftsstellen freier Träger letztmalig 2004 befragt.

In Kapitel 3.4 wurde bereits dargestellt, wie die Jugendhilfestruktur sich seit der Wende in Ost und West entwickelt und angeglichen hat. Für den Bereich Hilfen zur Erziehung zeigen die Auswertungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik für 2007 das folgende Bild:

Tabelle 3: Hilfen zur Erziehung nach Art des Trägers in 2007

West (in %)

Ost (in %)

Öffentliche Träger

19

5

Wohlfahrtsverbände insgesamt

42

47,5

setzt sich zusammen aus:

4

12

Ÿ AWO

Ÿ Paritätischer

7

17

Ÿ DRK

1

5

Ÿ Diakonie / EKD

16

10

Ÿ Caritas / Katholische Kirche

13

3

Ÿ sonstige Religionsgemeinschaften

1

> 0,5

Sonstige anerkannte Träger

32

43

Freie Träger insg.

74

90,5

Wirtschaftsunternehmen

8

5

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinderund Jugendhilfe – Erzieherische Hilfen 2007; Berechnung: Dortmunder Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik (Westund Ostdeutschland, 2007, andauernde und beendete Hilfen in %) (vgl.

Pothmann/Fendrich 2009, 4).

Hilfen zu Erziehung werden überwiegend von freien Trägern erbracht – im Westen waren es 74 %, im Osten 91 %. In Westdeutschland ist der Anteil der Maßnahmen, die durch öffentliche Träger und privat-gewerbliche Träger erbracht werden, jeweils höher als im Osten (öffentliche Träger: West: 19%, Ost: 5 %; privat-gewerbliche Träger: West: 8 %, Ost: 5 %). Mit Blick auf die freien Träger fällt außerdem auf, dass die ‚sonstigen anerkannten Träger', also nicht den Wohlfahrtsverbänden angeschlossenen Träger, eine bedeutendere Rolle im Osten (43 %) als im Westen (32 %) spielen. Auch die Wohlfahrtsverbände sind unterschiedlich stark aufgestellt. Diakonie und Caritas sind bspw. im Westen (29 %) deutlich häufiger als im Osten (13 %) an der Erbringung von Hilfen zur Erziehung beteiligt. Der Paritätische hingegen spielt eine wichtigere Rolle in Ost(17 %) als Westdeutschland (7 %) (vgl. Pothmann/Fendrich 2009, 4).

Die Bedeutung der unterschiedlichen Trägergruppen unterscheidet sich dabei innerhalb des Maßnahmenspektrums der Hilfen zur Erziehung. So nehmen z.B. Wohlfahrtsverbände insgesamt sowohl in der Erziehungsberatung (57 %) als auch bei den ambulanten (40 %) und stationären Hilfen (44 ) eine bedeutende Stellung ein.

Abbildung 2: Ausgewählte HzE-Maßnahmen nach Art des Trägers

Quelle: StaBa: Statistiken der Kinderund Jugendhilfe – Erzieherische Hilfen [4] 2007; Berechnungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinderund Jugendhilfestatistik (Deutschland, 2007; Aufsummierung andauernder und beendeter Hilfen in %) (Pothmann/Fendrich 2009)

Die ‚sonstigen anerkannten Träger' sind besonders stark bei den ambulanten (32 %) und stationären Hilfen (39 %) aufgestellt, in der Erziehungsberatung (4 %) jedoch kaum von Bedeutung. Die öffentlichen Träger schließlich führen fast 40 % der Erziehungsberatungen durch und sie bearbeiten operativ – trotz desbeobachteten Rückzugs seit der Wende – noch fast jeden fünften ambulanten sowie mehr als jeden zehnten stationären Fall. In der Gesamtschau erbringen damit die Wohlfahrtsverbände die meisten Hilfen zur Erziehung, sodass sie im Bereich der Hilfen zur Erziehung als dominierende Akteure beschrieben werden können. Privat-gewerbliche Träger spielen dagegen nur eine geringe Rolle, auch wenn sie im Vergleich mit anderen Hilfebereichen in den Hilfen zur Erziehung als Leistungsanbieter mit 9 % in Westund 6 % in Ostdeutschland einen relativ hohen Anteil stellen.

Wettbewerb setzt Auswahloptionen voraus, d.h. die Jugendämter müssen zwischen unterschiedlichen Anbietern mit freien Kapazitäten wählen können. Die DJI-Jugendamtserhebungen zeigen, dass die Mehrheit der öffentlichen Träger in fast allen Angebotsbereichen auf mindestens zwei Träger zurückgreifen kann und sich die Auswahlmöglichkeiten zwischen 2000 und 2008 verbessert haben (siehe Tab. 4).

Tabelle 4: Entwicklung der Trägerpluralität einzelner Hilfen zur Erziehung in den Jugendamtsbezirken von 2000 bis 2008

Mehrere Träger

Veränderung

ambulante oder teilstationäre Hilfen

Tagesgruppen

65 %

+ 5 %

Sozialpädagogische Einzelbetreuung

72 %

+ 12 %

Sozialpädagogische Familienhilfe

88 %

+ 29 %

Erziehungsbeistandschaften/Betreuungshilfe

88 %

+ 26 %

Kurzzeittherapeutische Maßnahmen für Familien

60 %

+ 13 %

Soziale Gruppenarbeit

58 %

+ 8 %[5]

außerfamiliäre Hilfen

Bereitschaftspflege

33 %

+ 22 %

Kurzzeitpflege

32 %

+ 24 %

Heime für Kinder und Jugendliche

77 %

+ 1 %

Betreute Wohngemeinschaften

76 %

+ 12 %

Betreutes Einzelwohnen

72 %

+ 1 %

Mutter-Kindund Vater-Kind-Einrichtungen

55 %

+ 3 %

Jugendschutzstellen/Inobhutnahme (0-6-Jährige)

37 %

[6]

Jugendschutzstellen/Inobhutnahme (über 6-Jährige)

35 %

3 %

Mädchen-/Frauenhäuser

18 %

Quelle: DJI-Jugendamtserhebung 2000 und 2009. Veränderungen gegenüber 2000 in

Prozent (vgl. Pluto et al. 2007, 201, 233; Gadow et al. 2013, 163, 176).

Die Trägerpluralität hat insbesondere in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (+ 29 %), bei den Erziehungsbeistandschaften (+ 26 %), der Kurzzeitpflege (+ 24 %) und Bereitschaftspflege (+ 22 %) zugenommen. Dies spricht dafür, dass Jugendämter – auch ohne von der Option Fremdbelegung Gebrauch machen zu müssen – Wahlmöglichkeiten vor Ort haben. Das DJI führt dabei den Anstieg in der Pluralität auf die §§ 78a bis 78g SGB VIII zurück (vgl. Gadow et al. 2013, 181).

Trägerpluralität ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für Wettbewerb. Zwar hat aus Sicht von 72 % der freien Träger in der Jugendhilfe der Konkurrenzdruck in Folge der Verwaltungsmodernisierung zugenommen, aber weniger als jeder dritte Träger befürchtet, dass privat-gewerbliche Träger freie Träger verdrängen könnten (27 %) (vgl. Mamier et al. 2003, 27). Messmers qualitative Befragung von Einrichtungsvertretern in der Heimerziehung zeigt, dass aus Perspektive der freien Träger vorrangig das „Wettbewerbsund Kostenbewußtsein […] gestiegen [ist], die bestehenden Wettbewerbsstrukturen […] jedoch dieselben geblieben [sind]“ (Messmer 2007, 155). Insgesamt kommt er zu dem Ergebnis, dass

„[d]ie Idee von Markt und Wettbewerb […] eine Fiktion zu sein [scheint]: weder im Hinblick auf Organisation noch im Hinblick auf Fragen der institutionellen Zusammenarbeit haben sich Marktund Wettbewerbskonkurrenz als maßgebliche Orientierungsgrößen erwiesen“ (Messmer 2007, 175, Hervorhebung im Original).

Andere Studien stellen eine Stabilisierung der Dominanz der Wohlfahrtsverbände (vgl. Grohs 2010a, 194) sowie „Schließung und Monopolisierung des sozialen Dienstleistungsmarktes“ (Langer 2007, 233) fest. Grohs zeigt auf Basis einer repräsentativen Befragung von Jugendämtern in 2005, dass eine Pluralisierung der Trägerstrukturen im Sinne einer vermehrten Übertragung von Aufgaben an verbandsunabhängige Träger aus dem privat-gewerblichen oder bürgerschaftlichen Bereich lediglich in 14 % der Kommunen zu beobachten ist, dabei teilweise auch dort nur in geringerem Maße (vgl. Grohs 2010a, 194). In seinen Fallstudien in vier Kommunen (S. 216 ff.) stellt er nur in einer Kommune eine „Annäherung an eine Ökonomisierung und Vermarktlichung“ fest, während er den drei anderen einen weitgehend ausgeschalteten Wettbewerb attestiert, sodass er insgesamt zu dem Schluss kommt:

„Der Wandel in Trägerstrukturen [bleibt] trotz Aufgabenverschiebungen marginal […] und wird weiterhin durch pauschalisiertes Vertrauen und den Gerüchtemarkt vor Ort ersetzt. […] Die etablierten Arrangements scheinen sich aus der Sicht der Akteure vor Ort bewährt zu haben“ (Grohs 2010a, 239).

Fischer, dessen Erkenntnisse auf qualitativen Interviews in zwei Landkreisen basieren, spricht von einem „Ausbau der Dominanz der etablierten Träger“ (Fischer et al. 2005, 145, 248 f.). Krone et al. identifizieren im Rahmen ihrer qualitativen Studie für den Bereich der ambulanten Hilfen verschiedene Mechanismen der Schließung des Sozialmarktes. Zu den formellen Mechanismen, die zu einer Schließung führen, gehört u.a. die exklusive Kooperation mit einem Träger(verbund). Leistungsvereinbarungen legen immer nur die Basis für die Zusammenarbeit zwischen freien Trägern und den örtlich zuständigen Jugendämtern. Für die Zusammenarbeit entscheidend ist jedoch die tatsächliche Belegung durch das Jugendamt. Dies zeigt das Beispiel einer durch Krone et al. untersuchten Kommune, die mit mehr als 80 Trägern Leistungsvereinbarungen für ambulante Hilfen vereinbart hat, de facto jedoch nur drei Trägern Fälle zuweist. Sozialmärkte können also nicht nur durch einen Exklusivvertrag mit Trägern geschlossen werden, sondern auch durch exklusives Belegen (vgl. Krone et al. 2009, 131).

Daneben verhindern außerdem eine Privilegierung öffentlicher Träger und auch spezifische, mit einem Sozialraumbudget einhergehende Ausprägungen des Sozialraumkonzeptes einen Wettbewerb zwischen den Trägern. Dass eine Sozialraumorientierung mit einer verstärkten Marktschließung einhergehen kann, zeigt neben Krone et al. (vgl. Krone et al. 2009, 136) im Übrigen auch Grohs (vgl. Grohs 2010a, 219). Krone et al. identifizieren außerdem im Bereich der ambulanten Hilfen, in denen die §§ 78a bis 78g SGB VIII allerdings nicht verpflichtend gelten, eine Reihe von informellen Mechanismen, die Wettbewerb entgegenstehen, wie z.B. die langjährige Bekanntschaft der Akteure miteinander. Wenn beide Seiten sich sehr gut kennen, sind in der Regel auch die Verhandlungen und Entscheidungen über Inhalt und Umfang der Fallbearbeitungen zeitlich kürzer. Denn die Akteure wissen bereits, dass es einen hohen Grad an fachlicher Übereinstimmung, Bekanntheit von Qualitätssicherung und -management sowie Verlässlichkeit in der Fallbearbeitung gibt (vgl. Langer 2007, 236 f.). Als zwei weitere Mechanismen identifizieren Krone et al. Personalwechsel zwischen Kommune und freiem Träger und personelle Verflechtungen zwischen Kommune und freiem Träger. Auch Grohs' Fallstudien zeigen, dass korporatistische Strukturen in Form einer starken Verflechtung der etablierten Wohlfahrtsverbände mit der Sozialadministration und den örtlichen Parteien einer Pluralisierung des Sozialmarktes und einer Durchsetzung von Wettbewerb entgegenstehen (vgl. Grohs 2010b, 426). Nach Krone et al. zeigt sich insgesamt,

„dass die Rhetorik des Wettbewerbs […] in der ambulanten Jugendhilfe kaum eine Entsprechung in der Realität findet. Selbst dort, wo – bspw. über Ausschreibungen – wettbewerbsorientierte Verfahren angewandt werden oder wurden, gibt es offenkundig Mechanismen, die bald wieder zu einer Schließung des Marktes führen“ (Krone et al. 2009, 183).

  • [1] https://destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Soziales/KinderJugendhilfe/Ausgaben EinnahmenJugendhilfe.html (21.12.2013).
  • [2] Siehe auch: akjstat.uni-dortmund.de/ (21.12.2013).
  • [3] dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt=64 (21.12.2013).
  • [4] Einschließlich der Hilfen für junge Volljährige; Erziehungsberatungen sind Hilfen gem. § 28; ambulante Hilfen entsprechen Hilfen gem. §§ 27 (ambulante Hilfen), 29-32, 35 und schließen damit die teilstationären Hilfen mit ein; stationäre Hilfen sind Leistungen gem. §§ 27 (stationäre Hilfen) und 34. Maßnahmen der Vollzeitpflege (§ 33) bleiben unberücksichtigt
  • [5] 2000 wurden für die Soziale Gruppenarbeit keine Daten erhoben. 2004 lag die Zahl bei 50 %, d.h. die Prozentzahl bezieht sich auf die Veränderung seit 2004. Damit ist auch hier eine Zunahme der Pluralität – wenn auch innerhalb eines kürzeren Zeitraums – zu verzeichnen.
  • [6] 2000 wurde noch nicht altersbezogen differenziert, sondern nur generell nach Jugendschutzstellen/Inobhutnahme-Trägern gefragt.
 
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