Rechtsradikale Aktivitäten im Europäischen Parlament – eine Bilanz
Eine erste Bilanz der Präsenz und Arbeit der rechtsradikalen Abgeordneten des Europäischen Parlaments von 2009 bis 2014 zu ziehen ist nicht leicht. Zum einen handelte es sich um eine vergleichsweise kleine Gruppe von Abgeordneten innerhalb des Parlaments, zum anderen stammten diese aus jeweils unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kontexten. Auch wenn die Rechtsradikalen nur knapp fünf Prozent der Abgeordneten stellten, lassen sich doch einige Indikatoren benennen, dass sie zumindest indirekt Einfluss entfalten konnten und die Infrastruktur des Parlaments, finanzielle Mittel und parlamentarische Legitimität nutzten.
Was bedeutet politischer Einfluss an dieser Stelle? Einfluss ist die Möglichkeit, ein Set von Entscheidungen und Ereignissen zu verändern, die sich ohne die Präsenz und das Handeln eines bestimmten Akteurs anders entwickelt hätten. Einfluss kann auf konkrete legislative Initiativen oder Gesetze ausgeübt werden, aber auch auf die politische Agenda, also das Set von Themen, das in einem politischen System besondere Aufmerksamkeit erfährt (vgl. Cobb/Elder 1983: 86; Baumgartner/Jones 1993). Zentral sind die Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Akteuren innerhalb (und außerhalb) eines Parlaments. Im Ergebnis formen bestimmte Ideen eine politische Agenda oder neue Ideen ersetzen alte Vorstellungen und bilden wiederum eine neue Agenda. Innerhalb eines Parlaments treffen verschiedene Diskurse aufeinander und ringen um die Diskurshoheit: "So ist z. B. der Kampf um politische Macht und staatliches Handeln […] auch ein Kampf um Deutungsmacht und um die politische, institutionelle und handlungspraktische Durchsetzung dieser Deutungsmacht" (Keller et al. 2001: 8). Einfluss auf legislative Initiativen kann sich neben der Durchsetzung auch in der Verhinderung von bestimmten Gesetzen, wie wirksame Gegenaktivitäten zur Bekämpfung rechtsradikalen Gedankenguts, festmachen. Ein rechtsradikaler Einfluss würde sich zum Beispiel an einer Blockade der Umsetzung parlamentarischer Beschlüsse gegen Rassismus und Xenophobie, der Betonung einer multikulturellen Gesellschaft und der Errichtung von Stellen zur Bekämpfung von Rassismus und deren finanzieller Ausstattung zeigen. Eine Studie von Michelle Williams (2006) zeigt, dass sich bei der Verhinderung bestimmter legislativer Initiativen ein rechtsradikaler Erfolg im Europäischen Parlament zumindest andeutet: zwischen 1994 und 2002 nahmen restriktive legislative Initiativen zum Thema Migration generell zu, während gleichzeitig Maßnahmen in Bezug auf die Bekämpfung von Rassismus stetig abnahmen. Sie folgert: "The overall trend in legislative initiatives at the European level favours the radical right position" (Williams 2006: 76). Eine rein quantitative Betrachtung verabschiedeter Gesetze oder Richtlinien lässt noch keinen Schluss über den tatsächlichen rechtsradikalen Einfluss zu. So ist aus Williams Betrachtung nicht ablesbar, ob die beobachteten Phänomene tatsächlich auf das Handeln rechtsradikaler Abgeordneter zurückführbar sind.
Es existieren einige wissenschaftliche Untersuchungen über das Verhalten und den Einfluss rechtsradikaler Parteien in Parlamenten. Schain (2002) untersuchte den Einfluss des französischen Front National (FN) und wies nach, dass die Politik des FN Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Bezug auf das Thema Immigration hat und die etablierten Parteien thematische Positionen des FN übernehmen. Andere Studien, wie die von Minkenberg (1998, 2001, 2002) Kitschelt (1995) oder Heinisch (2003) kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Durch die Interaktion mit den etablierten Parteien, durch parlamentarische Präsenz und durch exekutive Handlungen werden die Inhalte der Rechtsradikalen vermittelt. Eine reine parlamentarische Präsenz, so Minkenberg, hat jedoch keinen Einfluss auf die Politikinhalte. In tatsächlicher Regierungsverantwortung tritt eher eine "Zähmung" rechtsradikaler Positionen ein, als ein klarer politischer Rechtsruck (vgl. Minkenberg 2001: 18). Dessen ungeachtet haben Rechtradikale Einfluss auf die politische Agenda, indem sie öffentlichkeitswirksam ihre Themen durch die Medien verbreiten und gleichzeitig innerhalb des Parlaments die anderen Parteien thematisch vor sich hertreiben. Im Ergebnis findet eine Verschiebung des politischen Diskurses vor allem in kulturellen Themenfeldern statt, im Verhältnis zu linken Parteien im Sinne eines Kulturkampfes sowie gegenüber Immigrationsthemen. Minkenberg konstatiert:
"As the handling of civic rights, the ultra-nationalistic rhetoric, the various efforts of a Kulturkampf, and the policy towards migrants already indicate, the meaning of ›people‹ slowly shifts from demos to ethnos where the radical right-wing parties exercise executive power" (Minkenberg 2001: 19, Hervorheb. i. O.).
Durch die Mobilisierung von WählerInnen an den Rändern der Mainstream-Parteien versuchen sie die politische Mitte innerhalb der links-rechts-Achse des politischen Spektrums zu ihren Gunsten zu verschieben:
"They change the popular discourse, the agendas first of people and then of governments. This is where their impact becomes evident" (Williams 2006: 37).