Sensibilität für und Umgang mit der Ambiguität der Beziehung
Die Jugendamtsund Trägervertreter setzen sich unterschiedlich intensiv mit der Beziehung auseinander bzw. sie haben in unterschiedlichem Ausmaß eine Vorstellung davon, dass es verschiedene normative Systemund Beziehungsverständnisse gibt. So gibt es auf der einen Seite Interviewte, die über die verschiedenen Systemund Beziehungsverständnisse reflektieren und dabei ihr eigenes legitimieren. Ihr eigenes Verständnis erscheint ihnen als begründungspflichtig, weil ihnen bewusst ist, dass ihr Verständnis nur eines von vielen möglichen ist, es also verschiedene normative Konzepte gibt. Sie unterscheiden dabei jedoch zwischen dem eigenen ‚richtigen' und dem fremden ‚falschen' Verständnis. Es gibt aber auch Interviewpartner, die sich damit auseinandersetzen, dass es aufgrund der Ambiguität des Diskurs-Rahmens keinen eindeutigen normativen Rahmen gibt. Schließlich gibt es Jugendamtsund Trägervertreter, die das von ihnen gelebte Systemund Beziehungsmodell als selbstverständlich und völlig normal erleben und dementsprechend auch verbal nicht explizieren. Es dokumentiert sich allein in ihren Beschreibungen der eigenen Handlungspraxis.
Im Folgenden wird reflektiert, wie die Jugendamtsund Trägervertreter ihre verschiedenen Beziehungsverständnisse begründen, welche Strategien sie damit verfolgen, bzw. wie die Ambiguität des Diskurs-Rahmens und der Gesetzeslage sich auswirkt.
Die Jugendamtsvertreter
Reflexion über verschiedene Verständnisse als Bewältigungsoder Verteidigungsstrategie
Die westdeutschen Jugendamtsvertreter WLJA und WLJB des Landkreises WL explizieren und ‚verargumentieren' ihr spezifisches Beziehungsverständnis mit Rückgriff auf rechtliche Bezüge. Das SGB VIII dient dabei als Legitimation und Begründung für ein gegenteiliges Systemund Beziehungsverständnis: Während der Jugendamtsleiter WLJA sein normatives Verständnis, nach dem das Jugendamt als Auftraggeber die Träger hierarchisch über Wettbewerb steuert, mit dem SGB VIII legitimiert, zieht der Leiter der Sozialen Dienste WLJB dasselbe Gesetz als Legitimation für sein partnerschaftliches Beziehungsverständnis heran. Ein Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis in einem Wettbewerbsumfeld steht nach seinem normativen Beziehungsverständnis einem partnerschaftlichen Zusammenwirken und damit auch dem Gesetz entgegen.
WLJA: „Ansonsten kann ich eigentlich sagen, ist das Verhältnis zu den freien Trägern hier sehr vielfältig, wir haben insgesamt ne sehr bunte Trägerlandschaften im Landkreis, weil wir die vergangenen, vor dieser Umsteuerung [in Richtung Sozialraumorientierung], die vor zwei Jahren begonnen hat, eigentlich das Motto gepflegt haben, wie es auch im SGB VIII drin steht, die Konkurrenz belebt das Geschäft und nur über die Konkurrenz kann man eigentlich letztlich auch zielgerichtet steuern und das beste Ergebnis raus bekommen.“ (WLJA_14)
WLJB: „Also ich wünsche mir wirklich, dass wir die Sozialraumorientierung umsetzen können, dass wir zu einem guten Wir-Wir-Gefühl kommen zwischen öffentlichen und freien Trägern und somit auch der gesetzlichen Intention wieder mehr Rechnung tragen, äh die da heißt: partnerschaftliches Zusammenwirken. Also bei Auftraggeber-Auftragnehmer, finde ich hört Partnerschaft auf äh, da müssen wir aber auch wieder hinkommen.“ (WLJB_118)
Beide Jugendamtsvertreter legitimieren ihr Systemund Beziehungsverständnis zusätzlich über die damit gewährleistete Fachlichkeit (WLJA_14, WLJB_120).
Dass beide ihr normatives Beziehungsverständnis legitimieren, ist vermutlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass im westdeutschen Landkreis WL die Beziehung zwischen freien und öffentlichen Trägern einem „stetigen Wandel und Wechsel“ (WLJB_14) unterlegen ist. Dem korporatistischen Beziehungsmodell mit wenigen kirchlichen Trägern folgte eine wettbewerbsorientierte Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehung mit Trägervielfalt, der nun eine sozialräumliche Steuerung mit komplementären Angeboten in Sozialräumen folgen soll. Die Veränderungen wurden dabei immer von der Politik – konkret dem Kreistag
– initiiert. Die Auseinandersetzung der Jugendamtsvertreter WLJA und WLJB mit den verschiedenen Systemund Beziehungsmodellen stellt möglicherweise eine Reaktion auf die von der Politik und damit von außen aufoktroyierten Veränderungsprozesse dar. Sie kann durchaus als eine Bewältigungsstrategie verstanden werden, dient sie doch offensichtlich der Festigung des eigenen normativen Verständnisses, aber auch der argumentativen Abgrenzung gegenüber dem jeweils anderen Beziehungsverständnis.
Die empirische Untersuchung deutet darauf hin, dass die normativen Beziehungsverständnisse beider im Zeitverlauf, trotz der massiven von der Politik initiierten Veränderungen, stabil geblieben sind bzw. stabil bleiben (siehe hierzu auch Kap. 7.3.4). Dies zeigt sich exemplarisch an der Hilfeplanung. Der Jugendamtsleiter WLJA ist durch einen hierarchischen Steuerungsanspruch gegenüber den freien Trägern beeinflusst. Der Leiter der Sozialen Dienste WLJB ist durch eine partnerschaftliche Orientierung gegenüber den freien Trägern geprägt. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Beschreibungen des zukünftigen Hilfeplanprozesses im Rahmen der geplanten Sozialraumorientierung: der Jugendamtsleiter WLJA betont die Letztentscheidungskompetenz des Jugendamtes. So verweist er zwar auf das im Rahmen der Sozialraumorientierung bestehende Konsensual-Prinzip bei der Hilfeplanung, doch dem stehen eine Vielzahl von Äußerungen gegenüber, die den Führungsanspruch des Jugendamtes deutlich machen („letztliche Verantwortung liegt immer bei uns im Jugendamt“,
„Aber letztlich hat immer das Jugendamt die letzte Entscheidung“ (WLJA_84)). Der Leiter der Sozialen Dienste WLJB betont dagegen die enge partnerschaftliche Hilfeplanung mit „mehr Schnittmengen“, „Gemeinsamkeiten“ und „gemeinsamen Austausch“ (WLJB_114). Beide sehen ihr Verständnis dabei durch den mit den Trägern geschlossenen Sozialraum-Vertrag bestätigt[1]. Verwaltungen versuchen mit Hilfe von Dokumenten Verfahrensweisen verbindlich zu regeln. Doch die rekonstruierten Orientierungen deuten darauf hin, dass mit ihnen nicht unbedingt immer eine einheitliche Handlungspraxis erzielt wird bzw. erzielt werden kann. Der Vertrag lässt noch so viel Interpretationsspielraum, dass zwei Jugendamtsrepräsentanten mit gegensätzlichen Haltungen dazu, wie die freien Träger in die Hilfeplanung einzubinden sind, sich darin wiederfinden. Das Beispiel der Kommune WL zeigt, dass schriftliche Vereinbarungen und amtliche Dokumente eine organisationale Einheit suggerieren, die es so in der Praxis nicht gibt.
- [1] Landkreis WL (2009): Vertrag über die Wahrnehmung von Aufgaben der Jugendhilfe (Vertragsentwurf) (unveröffentlicht).