Feuer
Die Fähigkeit, mit Feuer umzugehen, ist eine universale menschliche Errungenschaft, die wir in allen bekannten Gesellschaften finden. Sie ist in höherem Maße den Menschen vorbehalten als die Sprache oder der Gebrauch von Werkzeugen. Rudimentäre Formen von Sprache und Werkzeuggebrauch kommen auch bei den nichtmenschlichen Primaten und anderen Tieren vor; aber nur die Menschen haben – als Teil ihrer Kultur – gelernt, das Feuer zu kontrollieren.
Nach der einfachsten Definition in modernen Enzyklopädien ist Feuer ein Verbrennungsprozeß, der Wärme und Licht freisetzt. Sein unmittelbarer Effekt ist zerstörerisch. Es löst die hochkomplexen Strukturen organischer Substanzen auf und reduziert sie zu Asche und Rauch. Dieses Ergebnis ist irreversibel; es ist unmöglich, daß sich die Überreste wieder in ihre ursprünglichen Formen und Farben zurückverwandeln. Der Phönix, der sich aus seiner Asche erhebt, existiert nur in der menschlichen Phantasie. Feuer verfolgt auch keinen Zweck. Der Verbrennungsprozeß ist blind und ziellos; ganz gleich, was er berührt: ist das Material entflammbar, wird es verzehrt. Selbstverständlich ist das Fehlen von Zielgerichtetheit nicht nur eine Eigenschaft des Feuers. Dasselbe gilt auch für andere Naturgewalten wie Regen oder Wind. Aber Feuer hat die seltene Eigenschaft, sich selbst zu erzeugen: Feuer verursacht Hitze, und Hitze verursacht wiederum Feuer.
Zerstörerisch, irreversibel, ziellos, sich selbst erzeugend – dies scheint keine sehr attraktive Auflistung von Eigenschaften zu sein. Was könnte unsere Vorfahren in einer entfernten, prähistorischen Vergangenheit dazu gebracht haben, diese wilde Naturgewalt zu zähmen und zu einem Teil ihrer eigenen Gesellschaften zu machen? Was befähigte sie, dies zu tun? Und warum fanden sie es der Mühe wert? Welche weiteren Konsequenzen hatte dies – für die Menschheit selbst und für ihre Beziehungen zur übrigen Natur?
Diese Fragen faszinieren Menschen schon seit langer Zeit. Es gibt eine reichhaltige Mythologie, in der die "Eroberung des Feuers" als ein großer Segen für die Menschheit erscheint, die oft erst mit Hilfe eines Halbgottes wie Prometheus gelang. In seinem Buch Myths of the Origin of Fire sammelte der britische Volkskundler und Anthropologe Sir James Frazer eine große Anzahl solcher Geschichten. Sie zeigen, wie Menschen in der ganzen Welt Feuer als etwas Besonderes, Kostbares angesehen haben, das irgendwie durch List oder Glücksfall in den Besitz ihrer Vorfahren gelangt war. Wie der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss gezeigt hat, ist allen diesen Mythen die Vorstellung gemeinsam, daß durch das Hüten eines Feuers und die Möglichkeit, Speisen zu kochen, die Menschen wirklich "menschlich" wurden.[1]
In vielen frühen Mythen wird das Feuer behandelt, als wäre es ein lebendes Wesen, beseelt mit eigenen guten oder schlechten Absichten. Später, in den Naturphilosophien gelehrter Gruppen in China, Indien und Griechenland, wurde das Feuer als eines der Hauptelemente angesehen, aus denen die Welt besteht; einige alte Kosmologen haben es sogar als stärkste Kraft im Universum angesehen. Alchimisten und Chemiker im Europa des Mittelalters und der frühen Neuzeit stellten ebenfalls das Phänomen des Feuers in den Mittelpunkt ihrer Forschungen. Im 19. Jahrhundert ersetzten Physiker diese Vorstellungen von Feuer durch andere Konzepte, wie Wärme und Energie, und es verlor damit seinen herausragenden Platz in der naturwissenschaftlichen Theorie. [2] Gleichzeitig blieb das Feuer jedoch für Forscher der Evolution menschlicher Kultur von erheblichem Interesse. So stellte kein Geringerer als Charles Darwin in The Descent of Man fest: "Die Entdeckung des Feuers, wahrscheinlich die größte, die jemals von Menschen mit Ausnahme der Sprache gemacht wurde, ist älter als der Anbruch der Geschichte." [3]
Viele Anthropologen in Großbritannien und noch mehr in Deutschland dachten in ähnlicher Richtung und schrieben ausführlich über die Bedeutung der Beherrschung des Feuers für die Entwicklung der Zivilisation. Der britische Anthropologe Edward B. Tylor, ein jüngerer Zeitgenosse Darwins, leistete einen bedeutenden Beitrag mit seinem sorgfältig geführten Nachweis, daß alle Geschichten über Völker, die die Kunst der Feuerkontrolle angeblich nicht beherrscht haben sollten, falsch waren. [4]
Im 20. Jahrhundert folgen die Sozialwissenschaftler eher dem Beispiel ihrer naturwissenschaftlichen Kollegen und streichen das Thema Feuer von der Tagesordnung. Einige Anthropologen, wie Omer C. Stewart, fuhren fort, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung zu lenken, die es in der menschlichen Vorgeschichte hatte. Einige Kulturgeographen, vor allem Carl Sauer, sahen im Feuer immer die bedeutendste Kraft, mit der die Menschen das Gesicht der Erde verändert hatten. [5] Doch die vorherrschende Tendenz war, es zu ignorieren. In der siebzehnbändigen International Encyclopedia of the Social Sciences, in der jüngsten Auflage 1968 herausgekommen, erscheint das Wort "Feuer" überhaupt nicht, weder als Artikel noch im Index. Es ist, als ob unsere Gesellschaften ohne Feuer existieren könnten und seine Kontrolle keinerlei Probleme aufwirft.
Eines der Ziele dieses Buches ist die Wiederherstellung eines Interessengleichgewichts. Aber die Aufmerksamkeit auf das Feuer zu lenken ist nicht meine einzige Absicht. Indem ich die Kontrolle über das Feuer in den Mittelpunkt stelle, möchte ich auch einige andere Themen, allgemeinerer und theoretischerer Natur, aufwerfen. Der Gegenstand kann dazu beitragen, uns daran zu erinnern, wie gründlich das menschliche soziale Leben in Umweltprozesse eingebettet ist. Er zeigt auch, daß diese Umweltprozesse schon über einen viel längeren Zeitraum als allgemein angenommen von menschlicher Tätigkeit beeinflußt worden sind.