Die Theorie

Schon seit geraumer Zeit bemüht sich das rechtextremistische Spektrum, die "soziale Frage" mit seinen politischen Inhalten zu besetzen und sich als Rächer der sozial Benachteiligten zu stilisieren. Nicht zuletzt ist dies eine Reaktion auf die in Deutschland gegenüber der extremistischen Rechten bestehende soziale Ächtung und der Versuch, Anerkennung und Legitimität zu gewinnen. Versucht wird von weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene, einen nationalen oder völkischen Sozialismus zu popularisieren, der sich gegen den "bankrotten" westlichen Parlamentarismus und eine "kapitalistische Plutokratie" richtet. Auch der rechtsextremistische Gerechtigkeitsbegriff ist in völkischen Kategorien verhaftet, bezieht sich auf die Solidarität des Volkes mit seinen Angehörigen und kommt nur denen zugute, die als zum eigenen Volk gehörig akzeptiert werden. Ebenso heterogen wie seine Organisationsstruktur ist die Begriffslandschaft des Rechtsextremismus (vgl. Grumke 2013). Dies trifft auch auf die rechtsextremistische Debatte der sozialen Frage zu. Es gilt also im Folgenden sich den zentralen Grundbegriffen zu nähern.

Die "Ethnisierung des Sozialen"

Die Begriffsheterogenität im Rechtsextremismus lässt es nicht zu, allgemeingültige Aussagen zu zentralen Grundbegriffen zu machen. Die an dieser Stelle angebotenen Definitionen werden also nicht von der gesamten rechtsextremistischen Bewegung gleichermaßen vertreten und sind oft äußerst kontrovers.

Eine Annäherung an relevante Begriffe verspricht das "Kleine Lexikon der politischen Grundbegriffe", das im – über extrem rechte Parteiund Organisationsgrenzen äußerst beliebten – "Taschenkalender des nationalen Widerstandes" des Jahres 2006 enthalten ist. [1]

Europa wird hier als "verschleiernde und beschönigende Bezeichnung für einen Lehnsstaat der ›Westlichen Wertegemeinschaft‹ und des internationalen Kapitalismus" beschrieben (Taschenkalender 2006: Europa). Ein Blick auf die weiteren Eintragungen verrät, was unter "westlicher Wertegemeinschaft" und "internationalem Kapitalismus" verstanden wird und was genau ideologisch hinter der Ablehnung dieser beiden Feindbilder steckt.

Kern der "westlichen Wertegemeinschaft" sind demnach "Individualismus, Internationalismus, ›Menschenrechte‹ sowie die Vorherrschaft der Wirtschaft und der Kapitalanleger, […]" (Taschenkalender 2006: Westliche Wertegemeinschaft). All dies wird strikt abgelehnt, da sowohl Individualismus, Internationalismus als auch die Menschenrechte, die wiederum als "wichtiger Hebel des Internationalismus zur Schaffung der ›Einen Welt‹ unter Zerstörung gewachsener kultureller und ökonomischer Strukturen" bezeichnet werden, allein dazu angetan seien, Nationen und Völker zu vernichten (Taschenkalender 2006: Menschenrechte). In diesem Sinne geht es Rechtsextremisten, wenn sie zu sozialen Themen auf die Straße gehen oder eine Kampagne gegen "Hartz IV" starten, nicht vordringlich um Solidarität in einem sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Sinne. Unter Solidarität wird im "Kleinen Lexikon der Grundbegriffe" eindeutig die "Bereitschaft eines Volkes zur Volksgemeinschaft sowie die enge Bindung als nationale Kampfund Tatgemeinschaft" verstanden (Taschenkalender 2006: Solidarität). Dass dieser Volks-, Kampfund Tatgemeinschaft nur Deutsche im Sinne des ius sanguinis angehören, kann im Rechtsextremismus als Konsens gelten. Auch das Verständnis von Gleichheit schließt hieran an, wenn die Idee von der Gleichheit des Menschen von Geburt an als "Irrlehre" bezeichnet wird (Taschenkalender 2006: Gleichheit), denn unter anderem der "Gleichheitsgedanke" sei "heute noch eine Gefahr für die Errichtung eines Volksstaates" (Taschenkalender 2006: Marxismus/Kommunismus).

Völkisch ist folgerichtig auch der Kapitalismusbegriff. Beklagt wird, dass "die Kapitalkonzentration bei einigen weltweit tätigen Multis" das "Dasein freier Völker" gefährde (Taschenkalender 2006: Kapitalismus); in diesem Sinne ist Antikapitalismus die Verteidigung der Volksgemeinschaft vor den volkszersetzenden und internationalistischen "Multis". Vertreten wird ein "nationaler Sozialismus", der den "Ausgleich zwischen Markt und Plan" sucht: "Nicht mit dem Ziel des Klassenkampfes, sondern der Klassenbeseitigung muss der Sozialismusbegriff aus nationalistischer Sicht wieder als annehmbarer Begriff besetzt werden" (Taschenkalender 2006: Sozialismus).

Im rechtsextremistischen Begriffsuniversum hängen alle oben genannten Begriffe aufs Engste zusammen und werden – völkisch aufgeladen – gegen die Bundesrepublik im Einzelnen und eine offene, pluralistische Gesellschaft im Allgemeinen in Stellung gebracht. Wie dies zu geschehen hat, führte u. a. das frühere Mitglied des sächsischen Landtages, Jürgen Gansel, sehr klar aus. Gansel, seit Jahren einer der wenigen öffentlich theoretisch denkenden Rechtsextremisten und Mitbegründer der so genannten "Dresdner Schule" (vgl. dazu Ramelsberger 2005), der "Denkund Politikschule einer selbstbewussten Nation", stellt in einem Interview mit der "Deutschen Stimme" klar: "Adolf Hitler und die NSDAP sind Vergangenheit, Hartz IV und Globalisierung, Verausländerung und EU-Fremdbestimmung aber bitterböse Gegenwart" (Deutsche Stimme 2006).

Der NPD-Kader fährt unverblümt fort:

"Insofern haben wir Nationalisten zwingend Gegenwartsthemen aufzugreifen und die soziale Frage konsequent zu nationalisieren. Laden wir die soziale Frage weiterhin völkisch auf – "Wir Deutschen oder die Fremden", "Unser Deutschland oder das Ausland" – und untermauern wir den Schlachtruf "Gegen Verausländerung, Europäische Union und Globalisierung" noch stärker programmatisch, werden wir die etablierten Volksbetrüger schon bald das Fürchten lehren." (Deutsche Stimme 2006)

Um wirkungsvoll "deutsche Interessen" vertreten zu können sei es unerlässlich, eine "Ethnisierung des Sozialen und damit eine klare Trennung von Eigenem und Fremdem" voran zu treiben (Deutsche Stimme 2006).

Gansels Einlassungen stehen weitgehend im Einklang mit dem am 5. Juni 2010 beim Bundesparteitag in Bamberg beschlossenen NPD-Parteiprogramm. In der Einleitung heißt es:

"Im 21. Jahrhundert entscheidet sich Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes. Existentielle Bedrohungen gehen vom Geburtenrückgang, einer rasch voranschreitenden Überfremdung, der Fremdbestimmung durch übernationale Institutionen und der Globalisierung mit ihren verheerenden Folgen aus. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands ist die soziale Heimatpartei der Deutschen, bekennt sich zu einem lebensrichtigen Menschenbild und setzt sich deshalb konsequent für nationale Identität, nationale Souveränität und nationale Solidarität.ein."

Zwar werden im Programm immer wieder Begriffe wie soziale Gerechtigkeit oder Sozialpolitik verwendet, diese beziehen sich aber ausschließlich auf "die Solidarität des Volkes mit seinen Angehörigen" (NPD 2010: 5, 10). [2] In diesem Sinne propagiert die NPD eine "raumorientierte Volkswirtschaft", die im Parteiprogramm einen eigenen Unterpunkt belegt, aber weitgehend nebulös bleibt (NPD 2010: Kap.5). Typisch sind Allgemeinplätze folgender Art:

"Nationale Solidarität bedeutet: Soziale Gerechtigkeit für alle Deutschen […] Der soziale Nationalstaat verhindert den Kampf aller gegen alle und ist daher die Schutzmacht des deutschen Volkes. Wir Nationaldemokraten sind im Existenzkampf um den Bestand unseres Volkes die Stimme des nationalen und sozialen Deutschlands." (NPD 2010: 5–6)

Klar ist, dass Volkswirtschaft hier begrifflich und ideologisch nicht von Volksgemeinschaft zu trennen ist und damit zwangsläufig ausgrenzend wirkt. Unklar bleibt jedoch, auf genau welchen Raum sich diese "raumorientierte Volkswirtschaft" bezieht.

  • [1] Hier und im Folgenden wird der Taschenkalender des Nationalen Widerstandes 2006 als "Taschenkalender 2006" bezeichnet. Da der Taschenkalender keine Seitenzahlen hat, werden stattdessen die Titel der jeweiligen Einträge angegeben.
  • [2] Parteiprogramm der NPD. In: npd.de/inhalte/daten/dateiablage/br_parteiprogramm_ a4.pdf (zuletzt abgerufen am 28. 8. 2013).
 
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