Feuer im alten Israel
Gesellschaftlicher Hintergrund
ie Gesellschaft des alten Israel hat uns ein außergewöhnlich reiches Erbe schriftlicher Zeugnisse hinterlassen, die viele Aspekte ihrer Geschichte im ersten Jahrtausend v. Chr. dokumentieren. Die hauptsächliche Quelle besteht in einer Sammlung von Schriften, die in der christlichen Tradition als Altes Testament kanonisiert worden ist. Selbstverständlich ist diese Quelle mit einiger Vorsicht zu gebrauchen. Dieses gilt insbesondere für die ersten Bücher, vom Ersten Buch Mose (Genesis) zum Zweiten Buch Samuel, die für sich in Anspruch nehmen, die Geschichte des jüdischen Volkes vor der Gründung des Königreichs Israel durch Saulus um 1 000 v. Chr. zu beschreiben. Obgleich diese Bücher in der Tat sehr alte Fragmente enthalten, datieren sie doch – in der Form, wie sie uns überliefert sind – aus der Zeit des babylonischen Exils nach der Eroberung Jerusalems durch die Assyrer im Jahre 586 v. Chr. Wir haben also eine Lücke von mehreren Jahrhunderten zwischen der Zeit, zu der die Ereignisse, über die die Texte berichten, stattgefunden haben sollen, und der Zeit, in der die Berichte, wie wir sie kennen, aufgeschrieben wurden. Hinzu kommt, daß die Autoren nicht in erster Linie an historischer Genauigkeit interessiert waren, sondern an der Konstruktion eines Modells der Vergangenheit des jüdischen Volkes, das den Sinn dieses Volkes für Religion und Gemeinschaft stärken sollte.1 Daher können wir von zwei Typen systematischer Verzerrung ausgehen:
1. einer besonderen Betonung der Religion und der Rolle, die der Gott, der in dieser Religion verehrt wurde, in der menschlichen Geschichte gespielt haben soll;
2. einer Tendenz, die Einheit des "jüdischen Volkes" als eines Volkes mit einer gemeinsamen patrilinearen Abstammung und einer gemeinsamen Geschichte und Kultur zu überhöhen.
Bei dieser Schieflage ist es eigentlich erstaunlich, wie plausibel das Bild, das sich ergibt, in vieler Hinsicht ist und wie nahe es gegenwärtigen Ansichten über die Prozesse der Seßhaftigkeit und der Staatenbildung kommt. Obwohl es keinerlei historische Belege für die Geschichten über die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob gibt, enthalten sie nichts, was "den gesunden Menschenverstand" daran hindern würde, die Berichte in der Genesis als Berichte über das halbnomadische Gruppenleben im Übergangsprozeß zu einer seßhaften Lebensweise aufzufassen. Der Aufenthalt in Ägypten und der spätere Auszug, den Moses anführte, sind ebenfalls unbewiesen; aber auch hier ist es sehr gut möglich – wenn wir die Wunder nicht beachten, die die Erzählung schmücken –, daß Menschen in Palästina durch Hungersnot gezwungen waren, in das reichere Land Ägypten auszuwandern, und daß eine Anzahl ihrer Nachfahren später nach Palästina zurückkehrte. Zunächst haben sie sich wohl in ziemlich lockeren Stammesverbänden zusammengeschlossen, und wahrscheinlich brachen auch viele gewalttätige Konflikte aus (wie in dem Buch der Richter beschrieben), sowohl innerhalb der Stämme selbst als auch zwischen benachbarten Gruppen. Um 1 000 v. Chr. gelang es einigen starken Führern, von einer zeitweiligen Schwäche der umgebenden Reiche zu profitieren und aus dem Stammesverband ein Königreich zu schmieden.
Die Geschichte des Königreichs wird im Ersten und Zweiten Buch der Könige erzählt. Obwohl auch sie nicht ganz frei von Verzerrungen sind, liefern sie für eine Rekonstruktion im Sinne einer modernen Chronologie ausreichende historische Details. Innerhalb eines Jahrhunderts fiel das Königreich in eine nördliche und eine südliche Hälfte auseinander. Der Norden, der weiterhin Israel genannt wurde, wurde durch die Assyrer im Jahre 722 v. Chr. erobert. Im Jahre 586 v. Chr. erlitt der südliche Teil Juda, mit Jerusalem als Hauptstadt, unter den Nachfolgern der Assyrer, den Neubabyloniern, ein ähnliches Schicksal. Die Bücher des ersten Teils dessen, was wir heute als Altes Testament kennen, wurden im folgenden babylonischen Exil zusammengestellt.
Zwei in diesen Büchern vorherrschende Themen sind Religion und Krieg. Dies kann kaum überraschen, wenn man die Bedingungen berücksichtigt, unter denen sowohl die Helden, deren Taten erzählt werden, als auch die Schreiber, die die Geschichten aufgeschrieben haben, lebten. Der Hintergrund war der einer militärisch-agrarischen Gesellschaft im Nahen Osten, beherrscht von großen Reichen, die ihre Machtzentren in Mesopotamien und Ägypten hatten und deren Einflußbereich bis in die Grenzgebiete, die heute Palästina genannt werden, reichte. Die Berichte in den Büchern Josua, im Buch der Richter und im Ersten und Zweiten Buch Samuel können als Geschichte einer Anzahl eng verflochtener, konkurrierender Gruppen gelesen werden, die versuchten, die Kontrolle über einen großen Teil dieses Territoriums zu gewinnen. Nach einer kurzen Periode militärischen Erfolgs schwand die politische Macht der Israeliten dahin; aber sie hielten eine kulturelle Einheit, auf der Grundlage einer gemeinsamen Religion, aufrecht. Zur Zeit des babylonischen Exils waren die Tage, in denen diese Stämme Triumphe auf dem Schlachtfeld feiern konnten, vorbei. Die Heldentaten vergangener Tage wurden daher mit um so größerer Inbrunst von einer literarischen Priesterelite niedergeschrieben, die ihrerseits selbst keine militärische Macht mehr erringen konnte, die aber systematisch den Werten einer militärisch-agrarischen Herrschaft verbunden war. Sie malten die Vergangenheit ihres eigenen Volkes als eine Geschichte der Eroberung und der Bildung eines souveränen Staates, der unglücklicherweise der Niedergang und die Unterwerfung folgten. Die Bücher der Propheten, die vor, während und auch nach der Rückkehr aus dem Exil geschrieben wurden, reflektierten in ähnlicher Weise die Antworten auf den militärischen Niedergang, gegen den die Propheten eine Wiederbelebung der religiösen Disziplin und Solidarität forderten.
Die Wörter Feuer und Brennen kommen in diesen Texten häufig vor, fast immer im Kontext von Religion und Krieg. Die Autoren zeigen wenig Interesse an der eigentlichen Kontrolle über das Feuer. So heißt es beispielsweise in der Szene, die beschreibt, wie Abraham sich für das Opfer seines Sohnes Isaak vorbereitet, daß er "ein Messer und Feuer und das Holz zum Brandopfer" (Erstes Buch Mose 22, 6) mit sich nahm. Wir können daraus schließen, daß die Menschen offensichtlich nicht gewohnt waren, ein neues Feuer zu machen, selbst an einem entfernten Ort nicht. Aber sicherlich war dies nicht die Botschaft, die der Autor übermitteln wollte. Er war interessiert an dem menschlichen Drama – dargestellt als Drama zwischen Mensch und Gott – eines Vaters, der die Absicht hat, sein Kind zu töten, aber im letzten Augenblick begnadigt wird.
Religiöse Brandopfer bilden ein regelmäßig wiederkehrendes Thema, unter dem Feuer in den Schriften erwähnt wird. In einer geheimnisvolleren Art und Weise erscheint das Feuer auch als ein Zeichen göttlicher Macht, durch das der Herr sich seinen Getreuen auf Erden offenbart. Weiterhin finden wir Feuer im Zusammenhang mit Beschreibungen des Herrn, wenn er seinen göttlichen Zorn ausdrückt und die Sünder und Feinde Israels schlägt. Eng verwandt damit sind Berichte militärischer Aktionen, die in die Zerstörung der Festungen und Städte durch Brände münden. Schließlich – aber nur als Residualkategorie – gibt es gelegentliche Hinweise zum Feuereinsatz für praktische Zwecke wie Kochen, Heizen und Beleuchtung.
Der Kontrolle über das Feuer galt nicht das Hauptaugenmerk, weder das der Schreiber noch das des Volkes Israel im allgemeinen. Und dennoch, zum Teil gerade wegen der unaufdringlichen Art, in der sie gewöhnlich Feuer erwähnen, erlauben uns die Texte erhellende Blicke auf die Art und Weise, in der Feuer im alten Israel benutzt wurde. Sie zeigen uns einen sozialen Hintergrund, der in bestimmter Hinsicht einzigartig war (und, so werde ich argumentieren, auch absichtlich so sein sollte) und in anderer Hinsicht Züge aufwies, die allgemein typisch für militärisch-agrarische Gesellschaften im Nahen Osten im ersten Jahrtausend v. Chr. waren.