Feuer in der Welt des Odysseus: die militärische Ordnung
Der Hintergrund der ältesten griechischen Werke der Literatur, der epischen Gedichte Ilias und Odyssee, ist der einer ländlichen Welt, die von einer Minderheit von Kriegern beherrscht war, die in der Lage waren, organisierte, im Kämpfen spezialisierte Männerbanden zu mobilisieren und zu befehligen. Die Befehlshaber waren auch die Großgrundbesitzer, und ihre Soldaten wurden aus der bäuerlichen Bevölkerung rekrutiert. Der bedeutendste Wandel, der diese militärisch-agrarische Struktur während der 1 500 Jahre griechisch-römischer Geschichte beeinflußte, betraf den Zentralisierungsgrad der Kapazität, Befehlsherrschaft über die organisierte Gewalt auszuüben. Im homerischen Zeitalter waren kleine, eigenmächtige Kriegsherren immer noch in der Lage, ein großes Maß an Autonomie aufrechtzuerhalten. In späteren Jahrhunderten wurden die Armeen zunehmend größer. Obwohl selbst in der Blüte des Römischen Reiches die zentrale Kontrolle über die Armeen immer mühsam war, war der Grad der Zentralisation unvergleichlich höher als in den Tagen, als die griechischen Stadtstaaten sich gegen Persien vereinten.
In der Welt des Odysseus stand, wie der Altgeschichtler M. I. Finley es formuliert hat, der Oikos im Mittelpunkt des sozialen Lebens – der große Familienhaushalt, der sowohl eine bedeutende ökonomische als auch eine politische Einheit war. Der Oikos war bis zu einem hohen Grad autark; er versorgte sich selbst mit Nahrungsmitteln, Wolle, Leder, Holz und Stein. Nur ein häufig gebrauchter Artikel mußte im allgemeinen von außerhalb importiert werden: Metall, das unverzichtbar für die Herstellung landwirtschaftlicher Geräte, Schmuck und besonders Waffen geworden war. Solange es Geld für die Durchführung von Transaktionen noch nicht gab, waren die einzigen Wege, Metalle zu bekommen, Tausch und Inbesitznahme. Güter und Dienstleistungen wurden ausgetauscht. Die einzige Verteidigung gegen Plünderungen lag in der kämpferischen Tapferkeit, die der Oikos selbst aufbieten konnte. [1]
Die Notwendigkeit militärischen Schutzes gab der herrschenden oberen Kriegerschicht eine unmittelbar sichtbare soziale Funktion. Dies vermag ihre herausragende Bedeutung in der homerischen Gesellschaft und in den homerischen Epen zu erklären, deren Hintergrund der Krieg Griechenlands gegen Troja war. Selbst wenn der Dichter eine friedliche Szene beschreibt, in der die Helden um ein Feuer sitzen und ihre Mahlzeit genießen, nachdem jeder fromm einen Teil seines Fleisches den Göttern dargebracht hat, ist der Hintergrund immer die fortdauernde Belagerung Trojas.
In einer äußerst sorgfältigen Studie hat der französische Philologe Louis Graz alle Stellen in der Ilias und in der Odyssee analysiert, in der das Wort Feuer vorkommt. In vielen Fällen wird es als Metapher gebraucht, so z. B. wenn eine Schlacht mit einem Feuer verglichen wird: "Plötzlich entbrannt, in Flammen verschlingt, (es verschwinden die Häuser rings im mächtigen Glanz, und es saust in die Lohe der Sturmwind)" (Ilias 17, 738–749). [2] Entsprechend wird die Art und Weise, in der ein einzelner Krieger sich selbst in das Getümmel stürzt, mit einem Buschfeuer verglichen, das auf einem Bergabhang tobt (Ilias 20, 490–494) – ein passendes Bild für Schlachten, die mit großer Darbietung feurigen Muts und weniger in kühler Kalkulation geführt wurden. Graz stellt allerdings auch fest, daß das Wort Feuer seine tiefste Bedeutung in jenen Passagen erhält, in der es als Symbol für Sieg oder Niederlage dient. [3]
Die Leser und Hörer des Gedichtes kannten das Ende. Troja war zum Untergang verurteilt und mußte "alle das Elend ertragen", "das unglückliche Menschen umringt in eroberter Feste: wie man die Männer erschlägt und die Stadt mit Flammen verwüstet und auch die Kinder entführt und die tiefgegürteten Weiber" (Ilias 9, 590 ff.). Die Geschichte der allmählichen Eroberung und Zerstörung wird nicht in der Ilias erzählt (dies tat Vergil in der Aeneis erst viel später). Aber vom zweiten der 24 "Bücher" (oder Kapitel) an gibt es wiederholte Anspielungen auf das verheerende Feuer, das die Stadt in lodernde Flammen setzt und sie vollständig verschlingt (z. B. Ilias 2, 414 ff. und 20, 312).
Wir werden auch einige Male an die große Gefahr erinnert, die nur mit Mühe abgewendet wurde: daß die Trojaner die Schiffe der Griechen in Brand setzen könnten. Für die Griechen wäre dies einer Katastrophe gleichgekommen, denn die Flotte war die Basis ihrer Operationen und ihre einzige Möglichkeit, im Falle der Niederlage zu fliehen. Beinahe hätte der Feind dieses Ziel einmal erreicht: Eins der Schiffe stand schon in Flammen; nur im allerletzten Augenblick wurden die Trojaner, die mit brennenden Fackeln bewaffnet waren, von Patroklos zurückgedrängt und das Feuer in dem halbabgebrannten Schiff gelöscht (Ilias 16, 122–04).
Während das Feuer also in den tatsächlichen Schlachten, die hauptsächlich als Mann-gegen-Mann-Duelle ausgefochten wurden, keine Rolle spielte, wurde es als Mittel der endgültigen Zerstörung nach einer Niederlage sehr gefürchtet. Nicht das Feuer, das sich blind aufgrund natürlicher Ursachen entzündete, rief Furcht hervor, sondern das Feuer, das mit Absicht vom Feind eingesetzt wurde, um seinen Sieg zu vollenden.
Die Feuerstellen, die durch die eigenen Truppen bewacht wurden, gaben wenig Grund zur Sorge. Zu Beginn des Krieges, als die Trojaner noch ziemlich stark waren, versetzten sie den Griechen einen schweren Schlag; in derselben Nacht sammelten sie stapelweise Holz und ließen viele Feuer die ganze Nacht über brennen, um ein Opferfest vorzubereiten und um zu verhindern, daß die Griechen heimlich in die Dunkelheit entfliehen konnten (Ilias 8, 508 ff.).
Außer zum Kochen, Heizen und Beleuchten wurde Feuer von beiden kriegführenden Seiten zur Bestattung der Helden, die in der Schlacht gefallen waren, eingesetzt. Je größer der Held, desto höher war sein Scheiterhaufen. Das vorletzte Kapitel der Ilias wird fast ganz den feierlichen Vorbereitungen für die Verbrennung des Körpers von Patroklos gewidmet, des Freundes des Achilles, der von Hektor getötet worden war. Aus Rache metzelte Achilles zwölf Söhne trojanischer Edelmänner nieder, warf sie auf den Scheiterhaufen und rief seinem toten Gefährten zu: "Auch zwölf tapfere Söhne der edelmütigen Troer, diese zugleich dir tilgend die Flamme nun; Hektor indes nicht, Priamos' Sohn, soll dem Feuer ein Raub sein, sondern den Hunden!" (Ilias 23, 182–185)
Die Einäscherung der Toten ist ein Gebrauch des Feuers, den ich bis jetzt noch nicht erwähnt habe, obwohl seine Ursprünge auf eine viel frühere Zeit als die des Odysseus zurückgehen. Wie bei der Erdbestattung wird oft angenommen, daß es sich um ein Zeichen menschlicher Religiosität handelt, das es schon im älteren Paläolithikum gab. Als Hypothese biete ich hier eine andere Interpretation an, die eher dem generellen Zugang entspricht, den ich in diesem Buch verfolge. Es ist häufig beobachtet worden, daß Raubtiere und Aasfresser Geschmack an Menschenfleisch entwickeln können (es waren derartige Beobachtungen, auf die Bruce Chatwin seine Spekulationen über die im Kapitel 2 erwähnte schreckliche Dinofelis gründete). Auch in jüngerer Zeit, 1918, nach der großen Grippeepidemie, die vielen Millionen Menschen in der ganzen Welt das Leben kostete, begann ein Leopard in Rudraprayag in Indien, die herumliegenden menschlichen Körper wie Aas zu verschlingen, weil nicht genug Menschen überlebten, um sie zu verbrennen. Während Leoparden im allgemeinen in frühem Alter lernen, entweder "den Kontakt zu Menschen zu meiden, oder sie mit großem Mißtrauen zu behandeln", hat dieses besondere Exemplar von da an Menschen als Beute genommen, und es soll Berichten zufolge zwischen dem 9. Juni 1918 und dem 14. April 1926 126 Personen getötet haben. [4]Im Lichte dieser Beobachtungen sollten wir es nicht für ausgeschlossen halten, daß Erdund Feuerbestattung von unseren Vorfahren erfunden worden sind, um die aasfressenden Beutetiere daran zu hindern, Geschmack an Menschenfleisch zu finden.
Zur Zeit des trojanischen Krieges war es allgemeine Praxis, daß die Menschen sich ihrer Toten entweder durch Beerdigung oder durch Verbrennung entledigten. Ob die eine oder andere Methode vorgezogen wurde, war, wie der griechische Historiker Herodot schon wußte, eine Frage der kulturellen Variation; aber diese Variationen waren sehr wahrscheinlich von solchen Faktoren wie Bodenbedingungen und Knappheit oder Fülle von Feuerholz beeinflußt. Nach der Darstellung des Historikers für altgriechische Religion, Walter Burkert, war der Wechsel von der Beerdigung zur Verbrennung die "spektakulärste Veränderung gegenüber der mykenischen Epoche", ihr folgte vom 8. Jahrhundert an eine allmähliche Rückkehr zur Beerdigung. Burkert meint, daß dieser Wandel nur durch mögliche "äußere (v) Faktoren – etwa Holzmangel – oder unberechenbare (v) Mode" erklärt werden kann. [5]
Für Griechen und Trojaner war die Verbrennung in Kriegszeiten der einzige ehrenhafte Weg, die letzten Riten auszuführen. Aus diesem Grund wurde Achilles von seinen Kampfgefährten überredet, Hektors Körper seinem Volk zurückzugeben, damit er der Sitte entsprechend verbrannt werden konnte. Die Trojaner verbrachten neun Tage damit, große Holzmengen für den Scheiterhaufen zusammenzutragen; am zehnten Tag legten sie Hektors Körper oben auf die Spitze und steckten ihn in Brand (Ilias 24, 787 ff.). Mit der Zahl "neun" ist offensichtlich beabsichtigt, den Leser mit der Größe des Scheiterhaufens zu beeindrucken, es kann aber auch ein Hinweis darauf sein, wie knapp Brennmaterial nach zehn Jahren der Belagerung geworden war.
Mit Hektors Verbrennung endet die Ilias. Der königliche Sohn Trojas empfing die letzte Ehre, die ihm gebührte. Gleichzeitig sagte das Feuer die Zerstörung der besiegten Stadt voraus.
In der Odyssee, die Odysseus' lange Heimkehr von Troja beschreibt, finden sich keine schrecklichen Visionen der Zerstörung durch Feuer mehr. Eins der ersten Abenteuer des Helden, nachdem er Troja verlassen hatte, war die Plünderung von Ismaros, der Stadt der Kikonen. Er tötete die Männer und teilte die "jungen Weiber und Schätze" alle gleich auf, daß keiner "leer von der Beute mehr ausging" (Odyssee 9, 40–43). Die ganze Episode wird in ein paar Zeilen erzählt und läßt uns ahnen, wie Odysseus die militärische Herrschaft ausübte: ohne Gnade seinen Feinden gegenüber, aber mit einem Sinn für faire Behandlung seiner eigenen Männer, und damit erzeugt er Loyalität. Feuer wird überhaupt nicht erwähnt. Die paar Male, bei denen Feuer in der Odyssee auftaucht, stehen im Kontext von Geselligkeit und Gastfreundschaft. So lesen wir z. B., wie Odysseus in einer glänzenden Palasthalle ankommt, die von brennenden Fackeln beleuchtet wird (Odyssee 7, 101). Er wird herzlich willkommen geheißen und eingeladen, einen Ehrenplatz vor dem Herdfeuer einzunehmen (7, 167). Später schlachtet ein freundlicher Schweinehirt in einer bescheideneren Umgebung zwei kleine Ferkel für ihn, brät das Fleisch, serviert es ganz heiß auf den Spießen, "brätelnd noch an den Spießen" (14, 76). In solchen Szenen erweckt Feuer nur angenehme Assoziationen.
- [1] Vgl. Finley 1977. Leider werden in Finleys Rekonstruktion die militärischen Funktionen des Oikos weniger herausgestellt als die ökonomischen.
- [2] Alle Auszüge aus der Ilias sind der Übertragung von Johann Heinrich Voß entnommen, München 1963.
- [3] Graz 1965, S. 345–350.
- [4] Brain 1981.
- [5] Burkert 1977, S. 294 f. (engl. 1985, S. 191).