Feuer im vorindustriellen Europa

Die vier Stände

Die Entwicklung der Kontrolle über Feuer kann dazu dienen, uns an die Kontinuität und Einheitlichkeit in der Menschheitsgeschichte zu erinnern – zwei Aspekte, die oft durch spektakulärere Wendepunkte und einzigartige Merkmale, die die verschiedenen Epochen und Kulturen kennzeichnen, in den Hintergrund gedrängt werden.

Die Betonung der Kontinuität in der Kontrolle über Feuer soll keineswegs unterstellen, daß ihre Entwicklung ganz geradlinig oder ohne Erschütterungen abgelaufen ist. Jeder Großbrand stellte eine Unterbrechung dar, jede technische Erfindung – egal wie unbedeutend sie erscheinen mochte – gab neue Impulse. Im Rückblick jedoch können wir sehen, wie alle diese Ereignisse über die Jahrhunderte ineinandergriffen und einen einzigen Prozeß konstituierten.

Dieser Prozeß umfaßt sowohl verschiedene historische Zeiträume als auch anscheinend nicht miteinander verbundene Kulturen. In diesem Kapitel werde ich mich auf Westeuropa zwischen 850 und 1850 konzentrieren, ungefähr das gleiche Gebiet und dieselbe Epoche, die Norbert Elias in Über den Prozeß der Zivilisation behandelt hat. In diesem Zeitraum begann die Gesellschaft in Westeuropa langsam von dem militärisch-agrarischen Muster abzuweichen, das in fast ganz Eurasien vorherrschte. Von Anfang an jedoch fand diese spezifische Entwicklung in Kontakt mit anderen Regionen statt – als Teil einer größeren Konfiguration. Während der ersten fünf Jahrhunderte profitierten die Westeuropäer überwiegend von der Verbreitung anderer Kulturen und lernten viel von den Byzantinern, Arabern, Indern und Chinesen. Dann aber drehte sich der Spieß jedoch langsam um, und Europa übte einen immer größer werdenden Einfluß auf den Rest der Welt aus.

In dieser weltgeschichtlichen Verschiebung des kulturellen Einflusses und der sozialen Vorherrschaft war die Kontrolle über das Feuer kein unabhängiger Faktor. Dennoch hatte die Art und Weise, wie es Menschen gelang, die Möglichkeiten zum Gebrauch des Feuers auszubauen und wirkungsvollere Feuerschutzmaßnahmen für ihr Eigentum zu entwickeln, weitreichende Folgen, die zu untersuchen lohnt. In Über den Prozeß der Zivilisation hebt Elias die Verbindung zwischen dem Zivilisationsprozeß und der Staatenbildung in Europa hervor, wobei die sozialen Zwänge, die sich aus der gegenseitigen Abhängigkeit zunehmend größerer Gruppen von Menschen ergeben, als Bindeglied dienen. Steigende gegenseitige Abhängigkeit spielte auch eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Kontrolle über das Feuer. Im Gegensatz zur Verfeinerung der Sitten, die Elias zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung machte, entstanden Veränderungen in der Kontrolle über das Feuer jedoch nicht an den Fürstenhöfen, sondern anderswo in der Gesellschaft. Entsprechend werde ich in diesem Kapitel einem Kurs folgen, der von demjenigen abweicht, den Elias in seinem Buch eingeschlagen hatte. Ich werde mich nicht auf die Aristokratie konzentrieren, sondern in aufeinanderfolgenden Abschnitten die vier ›Stände‹ untersuchen, die die wichtigsten Gesellschaftsgruppen im vorindustriellen Europa darstellten: den Klerus, den Adel, das Bürgertum und die Bauern.

Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß die vier Stände voneinander abhingen. Während der langen agrarischen Phase der europäischen Geschichte schienen die Verhaltensund Machtunterschiede zwischen ihnen ausgeprägter zu werden. Gleichzeitig jedoch gab es bereits frühzeitig eine unterschwellige Konvergenz – eine Tatsache, die der große französische Soziologe Alexis de Tocqueville vielleicht als erster klar erkannt hat. [1] Einige der großen Wendepunkte in dieser Ära, so z. B. die Reformation oder die Französische Revolution, können als Manifestation dieses Gegentrends – der Verringerung der Verhaltensund Machtunterschiede – betrachtet werden.

Jeder der vier Stände lebte in besonderen sozialen Zwängen und entwickelte entsprechend seinen eigenen Lebensstil – teilweise als Reaktion auf seine Position gegenüber den anderen Ständen. Berücksichtigt man diese Situation, so überrascht es nicht, daß unterschiedliche Meinungen darüber geäußert wurden, welcher Stand die wichtigste Kraft im europäischen Zivilisationsprozeß war. Kirchliche Gelehrte wie Augustinus, die dieses Thema als erste behandelten, schrieben den Institutionen des ersten Standes die wichtigsten Zivilisationsschübe zu: der Kirche, den Klöstern, der Religion. Eine spätere intellektuelle Tradition, von der Thomas Hobbes einer der bekanntesten Vertreter war, räumte der Politik und dem Staat Priorität ein – Institutionen also, die ursprünglich vom zweiten Stand, dem Adel, beherrscht wurden. Noch später haben dann Ideologen des Bürgertums wie z. B. Adam Smith auf die zivilisierenden Funktionen der Institutionen des dritten Standes, insbesondere des Marktes und des Wohlstands und Friedens, den er erzeugte, hingewiesen. Nur der vierte Stand, die Bauern und Landarbeiter, wurde selten als eine wesentliche Kraft im europäischen Zivilisationsprozeß hervorgehoben.

  • [1] Vgl. Stone und Mennell 1980, S. 25–41.
 
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