Das Zeitalter der Dampfmaschine und des Streichholzes
Es gibt eine plausible und direkte gedankliche Verbindung zwischen dem Bild der industriellen Revolution und der Dampfmaschine. Stiche aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen die britische Industrielandschaft als eine Landschaft, die von Fabrikschloten beherrscht wird, die große Rauchwolken ausstoßen. Nachts hüllte das rötliche Glühen der Brennöfen und Dampfmaschinen die ganze Umgebung ein. Reisende wie z. B. Alexis de Tocqueville oder Charles Dickens, die aus noch nicht so deutlich von der Industrialisierung geprägten Gebieten kamen, waren tief beeindruckt. [1] Ähnlich beeindruckt schildert der Amsterdamer Kaufmann H. P. G. Quack in seinen Erinnerungen den unvergeßlichen Anblick Lüttichs, als er sich um 1860 als junger Mann der Stadt bei Einbruch der Dunkelheit mit dem Zug näherte:
Von allen Seiten leuchten die Feuer der Gießereien, von allen Seiten hört man das dumpfe Dröhnen der Maschinen, der Dampf pfeift, dunkler Rauch wogt in schwarzen Wolken entlang der Gleise, oder Dampf steigt in einer weißen, dünnen Säule empor. Dampfer gleiten auf dem Fluß an dir vorbei; die Lokomotiven donnern mit ihren Zügen an dir vorüber. [2]
Mehr als ein Jahrhundert lang hallten die staunenden Beobachtungen der Zeitgenossen in den Schriften der Historiker wider. In ihrer Einschätzung war die Dampfmaschine "das Zugpferd, das die Industrie ins moderne Zeitalter zog"; "Dampf ermöglichte, daß die schnelle und universelle Entwicklung der Massenindustrie stattfand"; sie beschrieben "die Erfindung der Dampfmaschine" als "das zentrale Ereignis in der industriellen Revolution".[3] Eine jüngere Generation von Historikern unterzog das Quellenmaterial jedoch einer erneuten Untersuchung und kam zu dem Schluß, daß die von der Dampfmaschine gespielte Rolle überschätzt wurde.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in der Tat einige große Industrieanlagen, in denen Güter in hohen Stückzahlen hergestellt wurden, jedoch ganz ohne den Einsatz von Dampf. So beschäftigten einige englische Seidenfabriken Hunderte von Arbeitern, die mechanische, mit Wasserkraft betriebene Werkzeuge bedienten. [4] Die im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelten Dampfmaschinen wurden hauptsächlich im Bergbau eingesetzt. Ihr Anteil am Produktionsprozeß war immer noch sehr bescheiden. Laut einer oft zitierten Berechnung des Wirtschaftshistorikers
G. N. von Tunzelmann wäre das ökonomische Wachstum in England über das ganze 18. Jahrhundert in dem hypothetischen Fall, daß es überhaupt keine Dampfmaschinen gegeben hätte, um weniger als zwei Monate verzögert worden. [5]
Die Blütezeit der Dampfmaschine kam erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals konnten Fabriken mit durch Wasser oder Wind betriebenen Maschinen nicht mehr mit Fabriken konkurrieren, die mit Dampfmaschinen ausgerüstet waren. Die Dampfmaschine übte jedoch wahrscheinlich schon vor dieser Zeit einen indirekten Einfluß aus, da der Konkurrenzdruck die Besitzer von Wassermühlen zwang, die Kapazitäten ihrer Anlagen bis zum Maximum auszuweiten. Eine ähnliche Wirkung trat später bei der Schiffahrt auf, als nach der Einführung der Dampfer ein völlig neuer Typ von Segelschiffen entwickelt wurde, der Klipper, der über mehrere Jahrzehnte so schnell wie ein Dampfschiff war. [6]
Die Erzeugung von Dampfkraft erforderte höhere Investitionen als die von Wasseroder Windkraft. Wasser und Wind waren, gleichgültig wo und wann sie verfügbar waren, prinzipiell kostenlos, während Dampf immer in Prozessen, die Arbeitskräfte und Brennstoffe erforderten, hergestellt werden mußte. Während Wasser und Wind zwar billigere Energiequellen waren als Dampf, konnten sie jedoch nur in begrenzten Mengen erschlossen werden, und ihre Verfügbarkeit hing völlig von natürlichen Begebenheiten ab, die außerhalb der menschlichen Kontrolle lagen. Außerdem gab es vor der Erfindung von Generatoren zur Erzeugung von Elektrizität keine Möglichkeit, Wasseroder Windenergie zu transportieren. Mühlen waren daher an bestimmte Orte gebunden, und Windmühlen hatten den zusätzlichen Nachteil, vollkommen vom Wetter abhängig zu sein. Für die Nutzung von Dampfenergie konnten einige althergebrachte Prinzipien der Feuerbeherrschung – Feuer erzeugt Feuer, und sowohl Feuer als auch Brennstoffe sind transportabel – angewendet werden. Auf lange Sicht gab dies Unternehmern, die mit Dampfmaschinen arbeiteten, einen uneinholbaren Vorsprung gegenüber Konkurrenten, die nach wie vor Windoder Wassermühlen einsetzten. Bei der Suche nach einem Standort für ihre Anlagen mußten sie weitaus weniger natürliche Einschränkungen in Betracht ziehen; sie konnten ihre Maschinen mit großer Regelmäßigkeit 24 Stunden am Tag und zu jeder Jahreszeit betreiben; und durch das Installieren schwerer Maschinen waren sie in der Lage, die Produktionskapazitäten weit über die mit Windoder Wassermühlen erreichbaren zu steigern. Andere Mechanismen, denen wir bereits in der Geschichte der Feuerbeherrschung begegnet sind, gelten auch für die Dampfmaschine. Indem sie Dampfkraft nutzten, machten sich die Menschen weniger direkt von bestimmten natürlichen Kräften wie Flüssen oder Wind abhängig; sie blieben jedoch weiterhin von der "Natur" abhängig – in diesem Falle von dem Vorhandensein von Kohlevorräten. Außerdem stieg ihre Abhängigkeit von anderen Menschen, während ihre Abhängigkeit von natürlichen Kräften weniger direkt wurde. Die Zwänge sozialer Interdependenzen wurden gleichzeitig stärker und diffuser und waren dabei weniger deutlich zu erkennen. Diese Zwänge wirkten von mehreren Seiten auf die Industriellen. Selbst wenn sie sich als unabhängige Unternehmer betrachteten, mußten sie sich mit Zulieferern, Kunden, Konkurrenten und Beschäftigten befassen. Die Rolle, die sie in dieser multipolaren sozialen Figuration spielten, zwang sie, ständig neue Investitionen durchzuführen, um die Effizienz und Produktion zu steigern. Die daraus resultierende Überproduktion verursachte regelmäßig wiederkehrende Rezessionen und Konkurse. Mit jeder Krise verschwanden ein paar Wettbewerber und ließen eine kleinere Zahl zunehmend größerer Unternehmen zurück. Dieser ungeplante Prozeß der ökonomischen Monopolbildung, den Karl Marx scharfsinnig analysiert hatte, wurde später von Norbert Elias als typischer "Ausscheidungskampf" charakterisiert. Strukturell ähnelte er früheren Ausscheidungskämpfen wie den politischen und militärischen Kämpfen, die die Feudalherren im späten Mittelalter ausfochten und aus denen schließlich die Staaten des modernen Europas hervorgingen. [7]
Diejenigen Industriekapitalisten, die die ökonomischen Ausscheidungskämpfe überlebten, konnten enorme Profite machen. In starkem Kontrast zu ihrem zunehmenden Reichtum stand die Armut der Arbeiter. Während sich die Kapitalisten als Klasse dauerndem Druck ausgesetzt fühlten, größere und teurere Maschinen zu installieren, stand es den meisten einzelnen Mitgliedern dieser Klasse frei, aus dem Wettbewerb auszusteigen und eine andere Karriere zu verfolgen oder als Privatier zu leben. Arbeiter hatten diese Wahlmöglichkeiten nicht. Sie waren ausschließlich von den Löhnen abhängig, die sie für ihren Beitrag zum industriellen Produktionsprozeß erhielten. Als die Dampfmaschine zum Motor der industriellen Revolution wurde, hatten die Arbeiter kaum eine andere Wahl, als sich dem von ihr aufgezwungenen Rhythmus zu unterwerfen: "Alle Maschinen waren an den Motor angeschlossen, und der ganze Produktionsablauf erforderte, daß jeder Arbeiter seinen eigenen Willen dem der ganzen Arbeitseinheit unterwarf." [8]
Neue Formen der Disziplin im Fabrikbereich waren eine Folge der Industrialisierung. Eine andere war die allgemeine Verelendung, die Verschlechterung der Lebensund Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse. Der Begriff der Verelendung wurde von Karl Marx geprägt; der Prozeß als solcher war jedoch für jeden bürgerlichen Besucher sichtbar, der sich in die Fabriken, Zechen oder Elendsviertel vorwagte, in denen die Arbeiter lebten. Lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne, schlechte Wohnverhältnisse, die dauernde Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und das Fehlen jeglicher Reserven für Krisensituationen trugen dazu bei, das Leben der Arbeiter erbärmlich zu machen. Man mußte kein Sozialist sein, um dies zu erkennen. So merkte Tocqueville nach seinem Besuch in Manchester 1835 an:
Blicke auf und über den ganzen Ort, und du wirst die großen Industriepaläste sehen. Du wirst den Lärm der Brennöfen, das Pfeifen des Dampfes hören. Diese gewaltigen Bauten nehmen den von ihnen beherrschten menschlichen Behausungen sowohl die Luft als auch das Licht; sie umgeben sie mit immerwährendem Nebel; hier ist der Sklave, dort der Herr; hier ist der Reichtum einiger weniger, dort die Armut der Mehrheit; dort produzieren die organisierten Anstrengungen Tausender zum Nutzen eines Menschen das, was die Gesellschaft noch nicht zu geben gelernt hat. (…) Hier kommt die Menschheit zur ihrer höchsten und ihrer brutalsten Entfaltung. Hier bringt die Zivilisation ihre Wunder hervor, und der zivilisierte Mensch wird fast wieder in einen Wilden zurückverwandelt. [9]
Gleichzeitig mit der Zunahme der Gegensätze innerhalb der sich industrialisierenden Länder wuchsen auch die Machtund Verhaltensunterschiede zwischen den Ländern, in denen eine Industrialisierung stattfand, und denen, die nicht industrialisiert wurden. Dank ihrer blühenden Industrien entwickelten die europäischen Staaten gewaltige militärische Macht, der sich fast jede andere Gesellschaft unterwerfen mußte. Die Ureinwohner Nordamerikas und Australiens wurden fast völlig vernichtet. Viele Teile Asiens und Afrikas wurden unter koloniale Verwaltung gestellt, und ein großer Teil des Landes und der Menschen wurden zur Gewinnung und Herstellung von Rohstoffen für die Industrie in Dienst genommen.
Die militärische, politische und ökonomische Überlegenheit der europäischen Nationen beruhte stark auf ihrer fortgeschrittenen Industrialisierung. Gleichzeitig gab es jedoch auch gerade in diesem Prozeß der industriellen Produktion Entwicklungen, die zu einer Verringerung der Machtund Verhaltensunterschiede sowohl zwischen als auch innerhalb von Nationen führten. Eine dieser Entwicklungen war der Trend zur Massenproduktion, die die Standardisierung industriell gefertigter Bedarfsgüter zur Folge hatte. Ein typisches Produkt dieses Trends war das Sicherheitsstreichholz.
Man kann sagen, daß die Geschichte des Streichholzes als Mittel, Feuer zu entzünden, mit der Entdeckung des Phosphors im 17. Jahrhundert beginnt. Es gibt eine gewisse zeitliche Übereinstimmung zwischen seiner Entwicklung und der der Dampfmaschine, die nicht ganz zufällig ist. Die Fortschritte in speziellen Technologien und in der Wissenschaft sowie der allgemeine Anstieg des Wohlstands schufen die Voraussetzungen für eine bewußte Suche nach neuen Methoden zur Erzeugung von Feuer, die billiger herzustellen und einfacher zu bedienen waren als die Zunderbüchse. Insbesondere die Verbreitung der Gewohnheit zu rauchen schuf eine größere Nachfrage nach solchen Mitteln. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden mehrere Arten von phosphorhaltigen Streichhölzern entwickelt. Trotz vieler Verbesserungen, die in den folgenden Jahrzehnten eingeführt wurden, wiesen sie jedoch in vielerlei Hinsicht Mängel auf. Der Umgang mit ihnen erforderte höchste Vorsicht, denn sie verbreiteten einen Funkenregen, wenn sie angezündet wurden, und sie konnten sich leicht spontan entzünden, sei es durch eine abrupte Bewegung oder wenn sie der Sonne ausgesetzt waren. Zudem wurden die Köpfe aus einem hochgiftigen Stoff ("weißer Phosphor") hergestellt. Diese Nachteile wurden erst 1852 mit der Erfindung des Sicherheitszündholzes überwunden, das sich nur dann entzündete, wenn es an der Oberfläche einer Schachtel gerieben wurde. Diese Oberfläche enthielt den relativ harmlosen "roten Phosphor", eine Erfindung, die sich der schwedische Hersteller Johan Lundström patentieren ließ. [10]
Der Soziologe Herbert Spencer soll das Sicherheitsstreichholz den "größten Segen für die Menschheit im 19. Jahrhundert" genannt haben. [11] Diese Bemerkung mag zwar übertrieben scheinen; dahinter stand jedoch die Überlegung, daß das Sicherheitszündholz Feuer für alle Menschen in der ganzen Welt verfügbar machte, und dies mit einem minimalen Unfallrisiko und zu Kosten, die man tatsächlich bald vernachlässigen konnte. Streichhölzer sind, wie oft festgestellt wurde, das einzige von Menschen geschaffene Produkt, das so billig ist, daß man sogar einen Fremden darum bitten kann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitete sich ihr Gebrauch rasch in allen Bevölkerungsschichten der Industrienationen. Und überall dort, wohin die Europäer vordrangen, gehörten die von ihnen mitgebrachten Streichhölzer zu den ersten materiellen Kulturgegenständen, die die Menschen übernahmen, mit denen sie in Kontakt kamen.
Es stellt sich uns die Frage, warum Streichhölzer so beliebt wurden. Die spontane Antwort wäre wohl, daß sie das Feuer für jeden zu jeder Zeit verfügbar machten. Aber dann könnten wir weiter fragen, warum Menschen den Wunsch haben, Feuer zu machen. Es wurde geschätzt, daß die Engländer in den 1870er Jahren pro Person täglich durchschnittlich acht Streichhölzer anzündeten. [12]Warum taten sie dies? Im Haushalt brauchten sie Feuer zum Kochen, zum Heizen und zum Anzünden ihrer Ölund Gaslampen. Zudem brauchten immer mehr Männer Feuer zum Rauchen. Offenbar trugen der Stand der Technik, des Wohlstands und des Komforts, an den sich zunehmend mehr Menschen gewöhnten, zur Schaffung eines Marktes für die Streichholzindustrie bei.
Der Industriezweig selbst entwickelte sich bald zu einem lehrbuchhaften Beispiel der Monopolbildung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die weltweite Streichholzproduktion von wenigen Firmen kontrolliert, die gegenseitige Handelsabkommen geschlossen hatten und deren finanzielle Interessen miteinander verbunden waren. Für alle Menschen waren Streichhölzer eine unverzichtbare Notwendigkeit geworden. Die manuellen Fertigkeiten, die das Anzünden eines Streichholzes erforderte, waren sehr leicht zu erlernen; das Wichtigste, was die Menschen lernen mußten, war, die nötige Vorsicht walten zu lassen.
Sicherheitszündhölzer waren sehr einfache Produkte, aber sie wären für ein auf sich allein gestelltes Individuum sehr schwer herzustellen gewesen. Den meisten Menschen fehlte nicht nur das für ihre Produktion benötigte Wissen, sondern sie wären weder in der Lage gewesen, die notwendigen Rohstoffe zu besorgen, noch hätten sie die Maschinen für die Verarbeitung dieser Materialien besessen. Sicherheitsstreichhölzer waren nur ein Beispiel für die vielen Gegenstände, die dazu führten, daß Menschen in industriellen Gesellschaften ganz von anderen Menschen – deren Existenz ihnen eventuell nicht einmal bewußt war – abhingen.
- [1] Zu ihren Eindrücken siehe Clayre 1977, S. 117–131. Siehe auch Trinder 1982.
- [2] Quack 1915, S. 131.
- [3] Thomas S. Ashton (1948) und Paul Mantoux (1946), zitiert nach Sicilia 1986, S. 287; Forbes 1958a, S. 150.
- [4] Vgl. Hoskins 1970, S. 215.
- [5] von Tunzelmann 1978, S. 286 f.
- [6] Vgl. Blainey 1975b, S. 116–122.
- [7] Elias 1997b, GS 3.2, S. 213–230 [1939b, S. 204–221].
- [8] Mathias 1983, S. 138.
- [9] Zitiert nach Clayre 1977, S. 118 f.
- [10] Beaver 1985, S. 18–28.
- [11] Briggs 1988, S. 181; Beaver 1985, S. 19.
- [12] Briggs 1988, S. 195.