Der unterirdische Wald
So wie die Menschheitsgeschichte der letzten 10 000 Jahre die Geschichte der Agrarisierung war, so war die Geschichte der vergangenen 250 Jahre die der Industrialisierung. In ihrem Zuge entwickelte sich die Anthroposphäre zu einer weltweiten, den gesamten Planeten umspannenden Figuration mit zunehmend weitreichenden Wirkungen auf die gesamte Biosphäre.
Das industrielle Regime hat die älteren Regimes nicht einfach beendet. Im Gegenteil: Neue Einsatzmöglichkeiten des Feuers bildeten den Kern der Industrialisierung. Mithilfe fossiler Brennstoffe wurde Dampfkraft erzeugt sowie Eisen verhüttet und geformt. Die Schlote der Kohleund Eisenindustrie und der glutrote Schein der Hochöfen bei Nacht wurden zu Ikonen der Frühindustrialisierung.
Auch gab es enge Zusammenhänge mit der Landwirtschaft. Die Agrarproduktion bot allen in Bergwerken und Fabriken beschäftigten Arbeitern eine Subsistenzgrundlage. Als später die Industrialisierung auch die Produktion von Textilien und Lebensmitteln erfasste, lieferte die Landwirtschaft dazu die Rohware. Im Gegenzug begannen die Fabriken Produktionsmittel für die Landwirtschaft herzustellen: erst einfache Eisenwerkzeuge, dann komplexere mechanisierte Geräte und im 20. Jahrhundert alle möglichen von Verbrennungsmotoren angetriebenen Maschinen und fabrikmäßig hergestellten Düngeund Pflanzenschutzmittel. Am Ausgang des Jahrhunderts waren Agrarwirtschaft und Industrie zu nicht mehr voneinander trennbaren und oft kaum mehr unterscheidbaren Bestandteilen eines "agro-industriellen Komplexes" geworden, der massiv auf die Nutzung fossiler Brennstoffe angewiesen war.
Die primäre Wirkung der Industrialisierung lag darin, immense Vorräte an fossiler Energie zugänglich zu machen, die zuvor mangels Nutzung durch eine lebende Art so gut wie brach gelegen hatten. Im 18. Jahrhundert eröffnete eine Reihe von Erfindungen (sprich: Innovationen im Bereich der Information) die Möglichkeit, diese Vorräte zu erschließen und sie zur Erzeugung von Wärme und mechanischer Bewegung zu verwenden. Ähnlich wie die frühen Menschen ihre Stellung in der Biosphäre gefestigt hatten, indem sie lernten, die Verbrennung von Holz und anderer organischer Materie zu beherrschen, so erlernten ihre Nachfahren jetzt die Kunst, Feuer so zu nutzen, dass die in Kohle, Öl und Gas enthaltene Energie verwertbar wurde.
Auch wenn diese Entwicklung an ihrem Ende die gesamte Menschheit einbezog, so war es zunächst nur ein winziger Teil der Menschheit, der voranging und als erster davon profitierte. Eine schmale Schicht von Unternehmern in Großbritannien kam in den Genuss des Vorteils, Pionier der Industralisierung zu sein.
Am Beginn der Industrialisierung standen einzelne mit Dampfmaschinen betriebene Fabriken – häufig als "Mills", also "Mühlen" bezeichnet, so als würden sie immer noch durch Windoder Wasserkraft angetrieben – vereinzelt in der agrarischen Landschaft und bildeten nach den Worten des Umwelthistorikers Rolf Peter Sieferle (1997) "industrielle Archipele". Diese "Inseln" waren von Anfang an in einen weit größeren Kontext eingebunden. Der Industralisierung war die europäische Expansion nach Übersee vorangegangen und hatte dem Prozess einen starken Impuls verliehen. Großbritannien war im 18. Jahrhunderts bereits vielfältig mit der weiteren Welt verbunden, auf dem europäischen Kontinent ebenso wie auf anderen Kontinenten. Es besaß eine starke Navy und eine umfangreiche Handelsflotte. Der Handel mit anderen Kontinenten (wozu auch der Sklavenhandel gehörte) brachte dem Land beträchtlichen Wohlstand, während die Auswanderung über den Atlantik dazu beitrug, den Bevölkerungsdruck zu mindern. Die Gesamtheit der militärischen, politischen und ökonomischen Beziehungen bot den aufblühenden Industrien eine robuste Infrastruktur und sicherte ihnen einen geschützten Zugang zu weltweiten Ressourcen und Märkten.
Grundlage der Industrialisierung war buchstäblich die Kohle. Als Brennstoff war Kohle schon früher, im alten China und mittelalterlichen England, genutzt worden. Ihre Fundstätten hatten jedoch immer an oder nahe der Erdoberfläche gelegen und ihre Brenneigenschaften galten allgemein als schlechter als die von Holz. Der Abbau höherwertiger Kohle war so gut wie unmöglich, da sie zu tief in der Erde lag und die Stollen, die man zu ihren Lagerstätten getrieben hätte, ständig von Überflutung durch Grundwasser bedroht gewesen wären. Im Großbritannien des 18. Jahrhunderts konnte durch eine rasche Folge von Erfindungen der Wirkungsgrad von Dampfmaschinen so verbessert werden, dass sich das Wasser nun durch Hochpumpen beseitigen ließ. Während Dampfmaschinen die Kohlebergwerke zugänglich machten, fungierte die dort gewonnene Kohle als Brennstoff für die rasch wachsende Zahl der Dampfmaschinen insgesamt. Bald darauf entwickelte sich die Eisenbahn. Die von Dampflokomotiven gezogenen Züge traten zu derselben Konfiguration mechanischer Kräfte hinzu, durch die Kohle gewonnen, verteilt und zur industriellen Produktion von Gütern – von Eisenund Stahlvorrichtungen über Textilien bis hin zu Lebensmittelkonserven – eingesetzt werden konnte. Innerhalb dieser Konfiguration war die von den Dampfmaschinen gelieferte Energie keine einzelne, unabhängige "Ursache", sondern ein wesentliches Bindeglied, genauso wie einst in der frühen Steinzeit das Feuer ein wesentliches Bindeglied in der sich wandelnden Machtbalance zwischen Menschen und anderen Tieren gewesen war.
Als die Menschen begannen, die enormen Vorräte der in Kohle gebundenen Sonnenenergie auszubeuten, betraten sie, um das sprechende Bild Sieferles zu benutzen, einen "unterirdischen Wald", der sich in den vielen Jahrzehnten danach als weitaus ergiebiger herausstellte als ursprünglich angenommen. Verglichen mit der somatischen Energie der Menschen und ihrer Haustiere war die Energiemenge, die nun für die Produktion und Traktion zur Verfügung stand, ob in Pferdestärken, Kilowatt, Kalorien oder Megajoule ausgedrückt, gewaltig (Smil 2012).
Die Entdeckung dieses "Energie-Eldorados" (Morris 2013) führte zu einer technischen Entwicklung und einem Wirtschaftswachstum ohne Beispiel. Diese Prozesse erfassen heute zwar die gesamte Weltbevölkerung, ihre Vorteile verteilen sich jedoch nicht gleichmäßig, worauf Weissenbacher (2009) hinweist: Etwa 2,5 Milliarden Menschen sind nach wie vor auf herkömmliche Biomasse als hauptsächlichen Brennstoff zum Erhitzen ihrer Nahrung angewiesen. Auch das Feuer selbst erweist sich weiterhin als janusköpfig: Einerseits wird seine Zerstörungskraft auf höchst unterschiedlichen Feldern produktiv eingesetzt, andererseits führt sie auch zur massiven Zerstörung im Krieg.
Den höchsten Blutzoll der Menschheitsgeschichte durch Feuer forderten die zwischenstaatlichen Kriege des 20. Jahrhunderts. Während des Zweiten Weltkriegs löste die Bombardierung von Städten aus der Luft in den tödlichsten Fällen Feuerstürme aus, bei denen in kurzer Zeit Zehntausende Menschen ums Leben kamen. Selbst bei den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 ging die größte Zahl von Todesopfern und die schlimmste Zerstörung von Gebäuden nicht auf die atomare Strahlung, sondern auf die Brände zurück, die unmittelbar danach ausbrachen (Eden 2004). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden neue Techniken der Brandstiftung aus der Luft bei regionalen Kriegen in Vietnam, im Irak und anderswo erprobt. Ihre entsetzlichen Folgen wurden durch die weite öffentliche Verbreitung entsprechender Filme und Fotos für ein weltweites Publikum sichtbar.
Vielleicht auch dank seiner Wirkung auf den Fernsehbildschirmen der Welt wurde Feuer zunehmend populär als Mittel der öffentlichen Unmutsäußerung. Die Verbrennung von Flaggen ist häufig ein erstes Signal bei politischen Unruhen, von dem aus der Schritt nicht weit ist zum Anzünden von Reifen und wertvolleren Sachen wie Autos und Gebäuden. Bei Protesten gegen die Staatsmacht dient die kollektive Brandstiftung als "Waffe der Schwachen". In dieser Funktion kann sie beträchtliche Dimensionen annehmen, so bei den spektakulären Angriffen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, bei denen über 2600 Menschen starben – fast alle von ihnen in den Flammen der durch das Attentat verursachten Brände.
Gegen die größten Feuersbrünste waren Feuerwehren stets machtlos. Doch auch sie haben erheblich von technischen Innovationen profitiert. Hinzu kommt, dass in wirtschaftlich erfolgreichen Ländern die Bauvorschriften wesentlich dazu beitragen haben, Großbrände in Städten zurückzudrängen. Die ausgedehntesten Feuer treten heutzutage in Industrieanlagen auf. In Wohngebieten gibt es weitaus weniger offene Feuer als in der Frühphase der Industrialisierung. Die Bürger können sich normalerweise mit dem Gedanken beruhigen, dass sie in einer hochgradig feuergeschützten Zone leben.