Substanrmissbrauch und selbstverletrendes Vernalten
Warum verletzen sich Jugendliche selbst, und wie veränderte sich die Selbstverletzungsrate in den letzten Jahrzehnten?
Romuald Brunner
Einleitung
Wolfgang Lenhard
Schmerz ist eine sehr grundlegende Sinneswahrnehmung, die Organismen davor bewahrt, sich schädigenden Reizen auszusetzen, oder sie dazu veranlasst, solche Situationen zu verlassen. In den seltenen Fällen, in denen ein Mensch nicht über Schmerzwahrnehmung verfügt (sog. angeborene Analgesie oder auch bei bestimmten Erkrankungen, z. B. der Lepra) kommt es häufig zu massiven Verletzungen, da Schmerz keine Warnfunktion mehr hat und sich die betroffenen Personen versehentlich stark selbst schädigen. Abgesehen von diesen seltenen Fällen sind für die meisten Menschen Schmerzen sehr aversiv, sodass es umso paradoxer wirkt, wenn Personen sich diese selbst aktiv zufügen. Für Eltern und Personen im Erziehungsbereich kann es besonders belastend sein, wenn sie bei Kindern oder Jugendlichen selbstverletzendes Verhalten bemerken, da sie einerseits den Anspruch haben, Schaden von den Kindern abzuwenden, und andererseits die Selbstverletzungen nur schwer verhindern können. Es ist ein Phänomen, das zumindest gemäß der internationalen Klassifikationsmanuale keine eigene psychische Störung darstellt und gleichzeitig bei Jugendlichen sehr häufig zu finden ist (Brunner und Schmahl 2012), insbesondere im Zusammenhang von belastenden Situationen und als Symptom im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen. In meinen Vorlesungen geben jedes Semester in anonymen Umfragen zwischen 11 % und 15 % der Studierenden aus dem Lehramtsbereich an, sich in ihrer Jugend mehrfach und willentlich selbst verletzt zu haben, und über 75 % der Teilnehmenden haben ein solches Verhalten bei Gleichalterigen bemerkt. Bei bestimmten Personengruppen, beispielsweise in der Kinderund Jugendpsychiatrie oder bei Strafgefangenen, liegen die Prävalenzen sogar noch deutlich darüber.
Für Erziehende stellt sich die Frage nach den Ursachen und dabei zuweilen auch, ob man selbst an dem Verhalten schuld ist oder ob es sich um eine Manipulationsstrategie handelt. Es fällt Eltern und Lehrkräften schwer, die Gefährlichkeit der Situation einzustufen, beispielsweise zu beurteilen, ob das selbstverletzende Verhalten auf Suizidalität hinweisen könnte. Gleichzeitig wurde in den letzten Jahren häufiger in den Medien davon berichtet, sodass sich – wie bei den anderen in diesem Buch dargestellten Phänomenen – die Frage nach Entwicklungstrends hinsichtlich der Art und des Umfangs des Verhaltens stellt. Der Schlüssel zum Verständnis des Phänomens liegt darin zu erkennen, dass selbstverletzendes Verhalten für die Jugendlichen bestimmte Funktionen hat und – wenn auch auf ungünstige Weise – dabei helfen kann, Situationen zu bewältigen.
Prof. Dr. Romuald Brunner ist Kinderund Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Heidelberg und wird oft im Rahmen seiner praktischen Tätigkeit mit dem gesamten Spektrum selbstverletzenden Verhaltens konfrontiert. Auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit engagiert er sich in der Erforschung der Bedingungen und Auftretenshäufigkeit dieses Phänomens. Er war an groß angelegten europäischen Studien beteiligt (Brunner et al. 2014), deren Ziel nicht nur die Gewinnung verlässlicher Daten zum Vorkommen des Verhaltens war, sondern das Ziel hatten, die psychischen und sozialen Bedingungsfaktoren für Selbstverletzungen zu quantifizieren.
Referenzen
Brunner, R., & Schmahl, C. (2012). Nicht-suizidale Selbstverletzung (NSSV) bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Kindheit und Entwicklung, 21(1), 5–15. doi:10.1026/0942-5403/ a000065.