Außenpolitik und EUropa
Die wenigsten würden heute wohl noch bestreiten wollen, dass die EU eine – wie auch immer geartete – koordinierte und gemeinsame Außenpolitik betreibt. Spätestens seit dem Ende des Ost-West Konflitkes lässt sich sowohl ein Trend zur Internationalisierung als auch Europäisierung von Sicherheitsund Verteidigungspolitik konstatieren, der zwar den Staat als zentrales Subjekt von Sicherheitspolitik nicht verschwinden lässt, aber seine Aufgaben und Entscheidungsprozesse verändert hat (Merand 2008). Sicherheit und Verteidigung zu garantieren ist heute nicht mehr ausschließlich Aufgabe von Nationalstaaten, sondern Gegenstand gemeinsamer, kollektiver Institutionen und Organisationen wie den VN, der NATO oder eben auch der EU. Die Zustimmungswerte zu einer gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik sind laut Eurobarometer erstaunlich hoch und über die Jahre hinweg stabil geblieben. 75% der Befragten befürworten eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Rahmen der EU, während sich nur 15% dagegen aussprechen (Eurobarometer 2006; Peters 2010). [1]
War Sicherheit in und die Verteidigung von Europa zu garantieren in Zeiten des OstWest-Konfliktes Aufgabe der NATO, so hat das europäische Einigungsprojekt nach dem II. Weltkrieg doch immer auch sicherheitspolitische Implikationen gehabt. Das ‚Friedensprojekt Europa' diente der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich und ermöglichte den wirtschaftlichen Wiederaufbau unter gemeinschaftlichem Vorzeichen: Kooperation und Integration sollten nationale Egoismen und Krieg überwinden helfen. Außenpolitik im Allgemeinen und Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Besonderen verblieben jedoch in der Entscheidungsgewalt der Mitgliedsstaaten. Während mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) 1970 ein intergouvernementales, außerhalb der Verträge stehendes Koordinationsverfahren ins Leben gerufen wurde, hat die Institutionalisierung einer Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) seit Anfang der 1990er Jahre das internationale Image der EU als Sicherheitsakteur wesentlich geprägt (zum Überblick: Bretherton und Vogler 1999). Selbst eine von der Nomenklatur her Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik (GSVP) ist entstanden, die dafür Sorge trägt, dass beispielsweise im Namen der EU Wahlen im Kongo abgesichert und Grenzpolizisten in Palästina ausgebildet werden.
Die Frage nach der außenpolitischen Identität der EU und ihrer strategischen Kultur hat dabei die wissenschaftliche und politische Debatte bestimmt, wie dies die Diskussion über das Konzept der „Normative Power Europe“ anschaulich zeigt. Hat sich dabei die bisherige Forschung vorrangig auf die Außenbeziehungen der Kommission und die GASP bezogen, so verweist gerade die ESVP auf eine institutionelle Dynamik, die wesentlich zur Wahrnehmung der EU als einem global handlungsfähigen Sicherheitsakteur beigetragen hat. Diese Diskussion über eine stärkere sicherheitspolitische Präsenz der EU auf dem internationalen Parkett wurde lange Zeit durch die Frage nach der Kompatibilität oder Konkurrenz zwischen der EU und der NATO begleitet (Cornish und Edwards 2001).
Die politikwissenschaftliche Forschung hat der Entwicklung einer europäischen Außenpolitik seit den 1970er Jahren große Aufmerksamkeit geschenkt (Regelsberger et al. 1997, Tonra und Christiansen 2004). Was unter dem Phänomen einer europäischen Außenpolitik verstanden werden kann, lässt sich anhand von vier Analyseebenen differenzieren (White 2004: 51-54). Ersten kann man unter einer Europäischen Außenpolitik die Gesamtheit der EU-Außenpolitik, NATO-, OSZE-Politik und der nationalen Außenpolitiken europäischer Staaten verstehen (Hill 1998). Solch ein Verständnis ist jedoch nicht unproblematisch, rekurriert es doch auf einen diffusen Begriff von Europa als einer geopolitischen oder zivilisatorischen Einheit. Begriffe wie ‚Europa', ‚Amerika' und ‚der Westen' sind nicht nur räumlich vage, sondern werden oftmals auch in einer essentialisierenden Weise gebraucht, die den Blick für Prozesse der sozialen Konstruktion von politischen Ordnungen verstellt (zur Idee Europas: Neumann 1996; Pagden 2007). Zweitens wird der Begriff einer Europäischen Außenpolitik oftmals institutionell auf die EU beschränkt. Dieses Verständnis untergliedert sich in eine engere und eine breitere Auslegung. Während erstere unter einer Europäischen Außenpolitik vorrangig die intergouvernemental strukturierten Politikfelder der GASP und ESVP subsumiert, verweist letztere auf die Außenbeziehungen der Kommission und des Parlaments der EU. Drittens kann sich der Begriff Europäische Außenpolitik auf die Gesamtheit der biund multilateralen Politiken europäischer Staaten beziehen. Denn die Institutionalisierung von Außenpolitik im Rahmen der EU hat keinesfalls eine nationalstaatliche Außenpolitik obsolet werden lassen, sondern des Öfteren die Frage aufgeworfen, inwiefern nationale, intergouvernementale und supranationale Politiken ineinandergreifen. Internationalisierung, Europäisierung und Renationalisierung von Außenpolitiken verweisen hier auf unterschiedliche Tendenzen (Hellmann/ Bösche/Wagner 2006; Merand 2008). Viertens und letztens lässt sich eine Europäische Außenpolitik vor dem Hintergrund innenpolitischer Faktoren verstehen, indem das Zusammenwirken zwischen nationalen Entscheidungsträgern und -verfahren in Bezug auf europäische Themen untersucht wird (Jachtenfuchs 2002; Wagner 2002,).
Wenn im Folgenden von einer EUropäischen Außenpolitik die Rede ist, soll damit eine EU-Außenpolitik gemeint sein, die sich in einem empirisch engen Sinn auf die Institutionalisierung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik beschränkt. Für solch eine Fokussierung sprechen mindestens drei Gründe. Erstens wurde die allgemeine Wahrnehmung der EU als globaler Akteur stark durch die Institutionalisierung einer gemeinsamen Außenpolitik im Rahmen der EPZ und GASP/ESVP geprägt. Zweitens werfen diese Entwicklungen insbesondere für rationalistische und realistische Ansätze Fragen auf, da eine Kooperation oder gar Integration von Sicherheitsund Verteidigungspolitik als unwahrscheinlich gilt. Diesem Verständnis folgend ist gerade die Hoheit über äußere und innere Sicherheitspolitik wesentlicher Bestandteil der Staatsräson. Die Entwicklung einer EU-Außenpolitik erscheint hier oftmals als eine interessensgeleitete Politik der Gegenmachtsbildung, die von den großen Mitgliedstaaten getragen wird. Gemeinschaftsbildung und supranationale Integration gelten als unwahrscheinlich. Drittens ist die Fokussierung auf die Sicherheitsund Verteidigungspolitik reizvoll, da in den IB und der Außenpolitikforschung der konstitutive Zusammenhang zwischen der Herausbildung, Reproduktion und Transformation kollektiver Akteure einerseits und außenund sicherheitspolitischer Praktiken und Diskurse andererseits sowohl in konzeptioneller als auch historischer Hinsicht zunehmend Beachtung findet. Als Kernbereich der Außenpolitik sind mit der Sicherheitsund Verteidigungspolitik grundlegende symbolische Institutionen wie das Militär und die Fähigkeit, Krieg zu führen, verbunden. Um der Frage nach der Konstitution der EU als globaler Akteur empirisch begründet nachzugehen, stehen deshalb zwei sicherheitsund verteidigungspolitische Projekte der europäischen Integration im Mittelpunkt dieser Arbeit: die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik (ESVP).
Während die ESVP den meisten Leserinnen durchaus vertraut sein dürfte, ist die EVG heute ein in der politikwissenschaftlichen Forschung und öffentlichen Debatte weitestgehend vergessenes Unterfangen der supranationalen Integration (west-) europäischer Streitkräfte. Diese beiden verteidigungspolitischen Initiativen erscheinen jedoch hilfreich, um zu verstehen, wie die EU durch die Mobilisierung von Diskursen und Praktiken als globaler Sicherheitsakteur konstituiert wird. Zum einen gilt der Bereich Sicherheit und Verteidigung vielen Experten als ein domaine réservé des Nationalstaates. Insbesondere Realisten beurteilen eine Kooperation, gar Integration in diesem Politikfeld als unwahrscheinlich, wenn nicht gar als kontraproduktiv. Nun lässt sich schwerlich bestreiten, dass die europäischen Staaten mit der (gescheiterten) EVG und der ESVP in diesem Politikfeld neue Wege beschreiten. Welche Diskurse und Praktiken haben diese Entwicklung ermöglicht? Zum anderen lassen sich normative Gründe anführen, die nach den demokratietheoretischen und -praktischen Implikationen einer intergouvernementalen Sicherheitsund Verteidigungspolitik fragen. Wenn in der Tat Sicherheitsund Verteidigungsfragen nicht mehr nur in nationalen Parlamenten, sondern auch in ‚Brüssel' verhandelt werden, so wirft dies das Problem demokratischer und parlamentarischer Kontrolle auf. Schließlich lassen sich historisch Gründe anführen, inwiefern eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen der EU und der Herausbildung des modernen Staates und Staatensystems seit dem Westphälischen Friedensvertrag von 1648 besteht. Charles Tillys (1985; 1990) Diktum vom „war making as state making“ erscheint hier ebenso bedenkenswert wie John Ruggies (1993) Prophezeiung, dass sich die EU zur ersten „postmodern polity“ entwickeln könne. Die Praxis einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik wäre dann vielleicht ein wichtiger Indikator für einen Strukturund Formwandel politischer Ordnungen in der post-nationalen Konstellation (Habermas 1998).
Aufbau der Arbeit
In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit der Frage, welche Diskurse und Praktiken es uns ermöglichen, von der EU als globalem Akteur zu sprechen. In Kapitel 2 werden die konzeptionellen Überlegungen eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes in den IB, auf denen diese Arbeit aufbaut, ausführlich erörtert. Daran anschließend beschäftige ich mich in Kapitel 3 mit den methodologischen und forschungspraktischen Implikationen einer rekonstruktiven Forschungslogik, die geeignet ist, solche Diskurse und Praktiken systematisch in den Blick zu nehmen. Dieses Kapitel soll auch dazu beitragen, Entscheidungen der Auswahl und Interpretation von Dokumenten nachvollziehbar und damit intersubjektiv überprüfbar zu machen. Kapitel 4 bietet einen Überblick zur einschlägigen Forschungsliteratur, die sich mit der Entstehung, den Akteuren, Strukturen und Themen Europäischer Sicherheitsund Verteidigungspolitik beschäftigt. Daran schließt sich in Kapitel 5 und Kapitel 6 die Präsentation der Forschungsergebnisse einer Rekonstruktion der EVG (1950-1955) und der ESVP (1998-2003) an. Das abschließende Kapitel 7 unternimmt den Versuch, die gegenstansbezogenen Ergebnisse zusammenzuführen und im Lichte der übergeordneten Fragestellung dieser Arbeit nach der Herausbildung kollektiver Akteure zu reflektieren. Im abschließenden Ausblick wird dann erörtert, welchen Mehrwert ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogram in den IB erbringen kann und welche wissenschaftlichen, aber auch politischen Fragen sich an diese Arbeit anschließen könnten.
- [1] Verfügbar unter: ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb65/eb65_en.pdf (letzter Zugriff 25.4.2013).