Außenpolitik als Kultur – Entwurf eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes in den Internationalen Beziehungen
The challenge for the contemporary sociology of culture is not, however, to try to estimate how much culture shapes action. Instead, sociologists should search for new analytic perspectives that will allow more effective concrete analyses of how culture is used by actors, how cultural elements constrain or facilitate patterns of action, what aspects of a cultural heritage have enduring effects on action, and what specific historical changes undermine the vitality of some cultural patterns and give rise to others.
Ann Swidler (1986) Culture in Action. Symbols and Strategies, in: American Sociological
Review, 51: 2, hier: 284.
Einleitung
Kultur ist – und dies mag wenig überraschend sein – ein vielschichtiger und umstrittener Begriff, der seit Jahrzehnten Diskussionen in der Soziologie und Politikwissenschaft geprägt hat (Reckwitz 2000; 2006; Wohlrab-Saar 2010). Auch in den IB zeigt sich bereits in den 1970er Jahren ein zunehmendes Interesse an kulturellen Phänomenen und einer kultur-soziologischen Thematisierung internationaler Politik. Anja Jetschke und Andrea Liese diskutieren in einem Literaturbericht für die ZIB bereits Ende der 1990er Jahre dementsprechend „die wachsende Zahl empirisch-analytischer Studien in den Internationalen Beziehungen, die jenseits methodologischer Grabenkämpfe und theoretischer Alleinvertretungsansprüche zeigen, wie Kultur das Handeln von Akteuren, ihre Interessen und Identitäten beeinflußt“ (1998: 149; Herv. i.O.).
Im Anschluss an die ländervergleichende Studie von Sidney Verba und Gabriel A. Almond zu civic culture Anfang der 1960er Jahre mehrten sich Analysen, die den Einfluss von sozialen und kulturellen Faktoren auf außenpolitische Entscheidungen untersuchten. Besonders prominent war in diesem Zusammenhang die Diskussion über unterschiedliche strategische und außenpolitische Kulturen von Staaten (Jervis 1976; Snyder 1977). Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre erscheinen dann zahlreiche Publikationen, die sich explizit auf einen „cultural turn“ beziehen (Lapid und Kratochwil 1996). [1] Kultur wird hier nicht nur als ein empirischer Untersuchungsgegenstand, als abhängige oder unabhängige Variable in kausalen Erklärungsmodellen verstanden, sondern als Ausgangspunkt für einen grundlegenden Perspektivwechsel der Disziplin hin zu einem (kultur-) soziologischen Forschungsprogramm thematisiert, das sich mit den gesellschaftlichen und historischen Möglichkeitsbedingungen von Bedeutung und Wissen, sozialen Strukturen und Handeln beschäftigt. Im Wesentlichen vorangetrieben wird diese Entwicklung durch die Rezeption kultur-soziologischer Arbeiten aus dem Umfeld des französischen Strukturalismus und der Praxistheorie. „Kultur“, so Monika Wohlrab-Saar,
„wird in dieser Perspektive als Ensemble kultureller Praktiken verstanden, denen Wissensordnungen implizit sind. Eingeschlossen darin sind diskursive Praktiken, in denen diese Wissensordnungen expliziert werden, Subjektivierungen, in denen sie interiorisiert werden, und Artefaktsysteme, in Auseinandersetzung mit denen sie verwendet und modifiziert werden“ (Wohlrab-Saar 2010: 14).
Auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kultur und Außenpolitik gewinnt im Zuge dieses „cultural turns“ und der Debatte zwischen Vertreterinnen reflexiver (insbesondere poststrukturalistischer) und rationalistischer Ansätze an konzeptioneller und methodologischer Beachtung und bereitet den Weg für eine Theoretisierung von Außenpolitik als Kultur vor (zur Debattengeschichte der IB, siehe Waever 2013, Lapid 1989, Mayer 2003; kritisch: Booth 1996). Unter Außenpolitik als Kultur verstehe ich zweierlei: Zum einen soll damit ein Perspektivwechsel der IB und Außenpolitikforschung vollzogen werden, der seinen Blick von kausalen Erklärungsmodellen hin zur Rekonstruktion symbolischer Ordnungen und ihrem praktischen Vollzug richtet. Zum anderen meine ich hiermit das Wechselspiel von solchen Diskursen und Praktiken, die kollektive Akteure hervorbringen.
Eine kurze disziplinhistorische Annäherung an den Kulturbegriff soll zunächst dabei helfen, nachzuvollziehen, wie kulturelle Aspekte Eingang in die IB und Außenpolitikforschung finden. Daran schließt eine umfassendere Diskussion von Arbeiten im Zuge des „cultural turn“ an, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Kultur und Außenpolitik beschäftigt haben. Im zweiten Teil dieses Kapitels werde ich ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm skizzieren und begründen, warum eine Neuformulierung von Außenpolitik als Kultur dazu beitragen kann, jene Prozesse zu verstehen, die zur Herausbildung der EU als globaler Akteur beitragen.
- [1] Die Proklamation eines 'cultural turn' geht auf einen Aufsatz von Jeffrey Alexander zurück (Alexander 1988, Alexander 2008, Alexander und Seidman 1990; Emirbayer 2004).