Außenpolitik als kulturelle Praxis

In vielerlei Hinsicht ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz in den IB, zu betonen, dass Sprache wichtig ist. Denn wenn Politiker von einem ‚Krieg gegen den Terror', von ‚Umweltsicherheit' oder ‚Schurkenstaaten' sprechen, sind damit unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen und politische Konsequenzen verbunden. Sprachliche Formulierungen, so könnte man demnach vermuten, basieren auf den strategischen Interessenskalkülen der Akteure. Präsident Bush führt einen ‚Krieg gegen den Terror' – und eben nicht nur einen ‚Kampf' –, weil die Kriegsmetapher militärische Handlungsoptionen mit einem großen exekutivem Spielraum eröffnet. Mag dies auch (möglicherweise) zutreffen, so verweist die Rede von der Macht der Wörter in diesem Zusammenhang lediglich auf einen instrumentellen Gebrauch, der daran gemessen wird, ob er mit den Intentionen und Fakten übereinstimmt. [1] Die Richtigkeit der Wörter könne zudem an ihrer Übereinstimmung (oder nicht-Übereinstimmung) mit der Wirklichkeit gemessen werden, so die implizite Annahme.

Solch ein Korrespondenzverhältnis zwischen Sprache und Wahrheit ist jedoch spätestens seit dem „linguistic turn“ in unterschiedlichen Disziplinen in Frage gestellt worden (Rorty 1967; 1979). An die Arbeiten von Ludwig Wittgenstein und John L. Austin anschließend wird argumentiert, dass durch Sprache Bedeutung nicht nur konstruiert, sondern konstituiert wird. Austin unterscheidet in diesem Sinne zwischen konstativen und performativen Sprechakten. Während erstere auf empirischen Beobachtungen gründen und sich als ‚wahr | falsch' erweisen können („Morgen wird es regnen“), verweisen performative Akte auf den Vollzug einer Handlung. Dementsprechend lassen sich solche Sprechakte nicht als ‚wahr | falsch' kennzeichnen, sondern nur an ihren performativen Effekten bemessen. Sie konstruieren nicht nur soziale Wirklichkeiten, sondern konstituieren Subjekte und Objekte im Vollzug. Austins klassisches Beispiel ist das Ja-Wort bei einer Trauung (Austin 2010: 28-29). Durch die Artikulation ‚Ja, ich will' – zum richtigen Zeitpunkt, nämlich nach der entsprechenden Frage des Standesbeamten, und am richtigen Ort, nämlich vor einem Standesbeamten – wird eine Handlung vollzogen, die aus zwei Personen ein Ehepaar macht:

„[J]eder würde sagen, daß ich mit diesen Äußerungen etwas bestimmtes tue (natürlich nur unter passenden Umständen): dabei ist klar, daß ich mit ihnen nicht beschreibe, was ich tue, oder feststelle, daß ich etwas tue; den Satz äußern heißt: es tun“ (Austin 2001: 29).

Dieses Verständnis für die Performativität von Sprache, d.h. dass durch einen Sprechakt eine Handlung vollzogen wird, hat auf vielfältige Weise die Sprachphilosophie, politische Theorie, aber auch die Sozialwissenschaften beeinflusst. Insbesondere in der gender-Forschung wurde der Performativitätsbegriff von Judith Butler aufgegriffen und nutzbar gemacht, um zu verstehen, wie Geschlecht und Körper durch diskursive Praktiken konstituiert werden. In Anlehnung an die Arbeiten von Derrida beschreibt sie Performativität als eine produktive Kraft:

„In the first instance, then, the performativity of gender revolves around this metalepsis, the way in which the anticipation of a gendered essence produces that which it posits as outside itself. Secondly, performativity is not a singular act, but a repetition and a ritual, which achieves its effects through its naturalization in the context of the body, understood, in part, as a culturally sustained temporal duration“ (Butler 1999: xv).

Durch den Vollzug einer Handlung, so Butler, werden die Dinge in ihrer Sinnhaftigkeit erst gebildet. Geschlecht und Körper sind demnach originär soziale Begrifflichkeiten. Diese performativen Bezüge weisen zudem eine gewisse Regelmäßigkeit und Systematik auf – sie werden ritualisiert und institutionalisiert. Diese institutionellen Konsequenzen performativer Bezüge sind es, die für ein Verständnis von Außenpolitik als Kultur und die Herausbildung kollektiver Akteure von besonderem Interesse sind.

An dieses Verständnis von Performativität schließt David Campbell an, wenn er schreibt: “Whether we are talking of ‚the body' or ‚the state', or of particular bodies and states, the identity of each is performatively constituted” (Campbell 1998: 9). Campbell vertritt hier die These, dass sich eine Analogie zwischen dem Körper – nicht dem Individuum – und dem Staat ziehen lasse: „In other words, I'm not claiming that the state is analogous to an individual with a settled identity. To the contrary, I want to suggest that the performative constitution of gender and the body is analogous to the performative constitution of the state“ (Campbell 1998: 10; siehe auch Weber 1998). Folgt man diesem Performativitätsbegriff, so erscheint ein bedeutungsorientierter Kulturbegriff nicht mehr als ein Gegenpart zu Macht und Politik, sondern selbst als ein Feld von Machtbeziehungen:

„Macht existiert nicht außerhalb der Kultur, die Kultur ist keine Sphäre ‚weicher Faktoren', die machtlos blieben. Im Gegenteil sind die symbolischen Codes der Ort, an dem Macht ihre subtilste Wirkung entfalten kann: durch die symbolischen Codes wird eingeschränkt, was überhaupt denkbar, sagbar, wünschbar ist. Gleichzeitig entfaltet die Macht der symbolischen Codes eine produktive Qualität: limitiert nicht nur, sondern bringt auch bestimmte Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsweisen hervor“ (Reckwitz 2008: 40).

Gerade dieser sozialtheoretische Doppelcharakter symbolischer Ordnungen und ihres praktischen Vollzugs, der soziales Handeln begrenzt und ermöglicht, ist hilfreich um jene kulturelle Praxis zu verstehen, die zur Herausbildung kollektiver Akteure durch außenpolitisches Handeln beiträgt. Kultur und (politische) Macht sind demnach keine Gegensätze, sondern aufs Engste miteinander verbunden. Macht ist produktiv: „Productive power […] is the constitution of all social subjects with various social powers through systems of knowledge and discursive practices of broad and general social scope“ (Barnett und Duvall 2005: 55). Solch ein Machtbegriff überwindet eine allzu enge Fokussierung auf stabile (Bedeutungs-) Strukturen und fragt nach den „networks of social forces perpetually shaping one another“ (Barnett und Duvall 2005: 55). Außenpolitik ist für den Staat und politische Akteure im allgemeinen heutzutage eine institutionalisierte Praktik, die eine symbolische (und damit verbunden sinnstiftende) Grenzziehung zwischen ‚innen | außen' ermöglicht. Von Interesse ist dabei nicht ausschließlich die Grenze selbst – also die strukturalistische Dimension –, sondern die Art und Weise, wie diese Grenzziehung hergestellt und vollzogen wird. Die Unterscheidung zwischen der ‚Friedensmacht Europa' und einer ‚unilateralen Außenpolitik der Neocons' ist an sich erst einmal wenig überraschend und kaum erklärungsbedürftig. Wie diese Unterscheidung jedoch hergestellt und vollzogen wird, erscheint aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive umso interessanter.

Vor dem Hintergrund eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes geht es folglich nicht (mehr) darum, Außenpolitik zu definieren und zu operationalisieren, sondern um die Frage ihrer Genese als kulturelle Praxis, d.h. jenen Diskursen und Praktiken auf die Spur zu kommen, die politische Akteure konstituieren. Solche Prozesse der Herausbildung kollektiver Akteure verweisen sowohl auf den kontingenten Charakter politischer Entscheidungsfindung als auch auf die symbolischen Kräfte, die dazu beitragen, dass aus Möglichkeiten Wirklichkeit wird. Welche Bedeutungszuschreibungen werden durch politische Entscheidungsträger mobilisiert und zueinander in Bezug gesetzt? Von welchen Praktiken machen Entscheidungsträger Gebrauch? Und was bedeutet dieses Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken schlussendlich für die Herausbildung kollektiver Akteure?

In der Einleitung habe ich davon gesprochen, dass die ‚internationale Rolle' der EU oftmals mit Verweis auf das Konzept einer normativen Macht diskutiert wird. Versteht man nun Außenpolitik als Kultur und fragt nach dem Zusammenhang zwischen Außenpolitik einerseits und der Herausbildung kollektiver Akteure andererseits, so ist die Frage nach der normativen Macht der EU keine mehr, die man auf Grundlage von Charaktereigenschaften beantworten kann, sondern Produkt einer kulturellen Praxis, der ‚saying and doings' politischer Entscheidungsträger selbst. In Bezug auf die Entwicklung einer Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik erscheint es dann erklärungsbedürftig, wie es möglich wurde, dass mit der EVG und der ESVP zwei Projekte entstanden, die den Kernbereich staatlicher Souveränität berühren und EUropa als Akteur erfinden.

Während Rationalisten darauf verweisen, dass konvergierende Interessen und Präferenzen der beteiligten Regierungen hierfür ursächlich waren, legt eine kulturwissenschaftliche Perspektive ihr Augenmerk auf das Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken, d.h. auf die Mobilisierung und Aktualisierung von sozialem Sinn im Handeln der politischen Entscheidungsträger. Ob die Gründung der EVG nun ‚wirklich' im Interesse der westdeutschen Regierung lag, ist nicht entscheidend; viel interessanter ist die Frage, welche Diskurse und Praktiken mobilisiert und vollzogen wurden, so dass eine verteidigungspolitische Integration der westeuropäischen Staaten im Rahmen der EVG als unumgänglich angesehen wurde, d.h. wie aus Möglichkeiten (Wiederbewaffnung, NATO-Mitgliedschaft, Neutralität, alliierte Präsenz usw.) Wirklichkeit (Gründung der EVG) wurde. Und mit Blick auf die ESVP ist dann von Interesse, inwiefern sich an diese kulturelle Praxis, deren Ausdruck die EVG war, 45 Jahre später anknüpfen lässt – oder ob sich seitdem nicht vielmehr eine grundlegende Transformation der Diskurse und Praktiken beobachten lässt, die eine EUropäische Außenpolitik kennzeichnen.

Zusammenfassung und Ausblick

John Ruggie hat vor fast zwei Jahrzehnten die Europäische Integration und die Entstehung der EU als ein zentrales Indiz für die Herausbildung einer „first truly postmodern international political form“ beschrieben (Ruggie 1993: 140). Während die Moderne durch eine historisch einmalige Konfiguration territorialer Räume geprägt war, so Ruggie weiter, erfordern trans-nationale und integrative Dynamiken, wie sie sich anhand der Europäischen Integration beispielhaft zeigen, ein neues Vokabular, um diese Entwicklungen beschreiben und erklären zu können (Ruggie 1993: 143f.). Entscheidend ist dafür, die historisch kontingenten Formen der Differenzierung politischer Ordnungen zu verstehen: „modes of differentiation are nothing less than the focus of the epochal study of rule“ (Ruggie 1993: 152). Außenpolitik als Kultur lässt sich dann als solch eine historisch kontingente Form verstehen, die kollektive Akteure hervorbringt, anstatt sie vorzufinden. Wenn das Staatensystem, politische Akteure und ihr außenpolitisches Handeln weder zeitlos sind, noch ‚von heute auf morgen' entstehen, scheint es naheliegend, dass eine Theoretisierung EUropäischer Außenpolitik mit einer Rekonstruktion ihrer historisch kontingenten Möglichkeitsbedingungen beginnen sollte. Bevor dies anhand der Rekonstruktion der EVG und ESVP geschehen soll, werden im folgenden Kapitel die methodologischen und methodischen Implikationen eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes eingehender beleuchtet.

  • [1] Debrix sieht hierin einen wesentlichen Unterschied zwischen konstruktivistischen und poststrukturalistischen Ansätzen: „By referring to performativity, constructivists assume that the speaker of the word is the performer, and language remains this performer's tool. As such, language becomes the tool through which the performer establishes or responds to normative intents. By contrast, when poststructuralists claim that language is performative, they signify that language itself is the performance, independent of the agent's intentions” (Debrix 2003: 7; siehe auch Fierke 2002, 2003).
 
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