Die Praxis der Rekonstruktion von Diskursen und Praktiken
Nicht nur in den IB lässt sich der übliche Aufbau einer Arbeit wie folgt beschreiben: In der Einleitung werden die Fragestellung und deren Relevanz, das explanandum und puzzle hergeleitet. Daran schließt sich die Darstellung des entsprechenden Forschungstandes mit dem Ziel an, Lücken, Probleme und blinde Flecken aufzuzeigen. Nun folgt der theoretische Kern der Arbeit: der Rückgriff auf und die Weiterentwicklung einer Theorie (Neorealismus, Konstruktivismus, Liberalismus, Institutionalismus, Poststrukturalismus usw.), das Herleiten von Definitionen und Variablen sowie die Bildung von Hypothesen. Die Auswahl der passenden Methoden und Fälle wird oftmals in einem eigenständigen Teil geklärt. Dann folgt die empirische Untersuchung bzw. die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse empirischer Arbeit. Zum Ende gibt es noch ein Schlusskapitel, das die zentralen theoretischen, methodischen und empirischen Aspekte zusammenfasst und wenn möglich einen Ausblick auf zukünftige Forschungsthemen und -desiderate bietet.
Dieses Nebeneinander von Theorie, Methode und Empirie zeigt sich nicht nur in einer Arbeit, sondern auch in der Forschungspraxis einer disziplinären Fragmentierung zwischen Theoretikern und Empirikern. Stefan Hirschauer schreibt in diesem Sinne: „Es gibt eine eingelebte Arbeitsteilung von ‚Empirikern' und ‚Theoretikern': hier die Nonchalance eines frischen Drauflosforschens (eines ‚Findens von Befunden'), dort die komplementäre Nonchalance einer fabulierenden Begriffserfindung“ (Hirschauer 2008: 165; Herv. i.O.). Solch eine Arbeitsteilung und Trennung dient vielen als Leitbild ‚guter Forschung'. Die Theorie steht neben der Methodologie/Methode und der Empirie. Erst das eine, dann das andere, sauber getrennt und dennoch mit dem Anspruch geschrieben, dass Theorie, Methode und Empirie irgendwie zusammen gehören.
Die vorliegende Arbeit weicht von dieser Norm ab. Einem deduktiven oder induktiven Phasenmodell, das zwischen Theorie und Empirie säuberlich trennt, möchte ich eine Forschungspraxis entgegensetzen, die Teile wechselseitig aufeinander bezieht. Denn Theorien sind in einem doppelten Sinne immer schon mit Erfahrungswissen aufgeladen, „nämlich als empirische Einbettung von Theorien in historische Kontexte und als ihre Fallbezogenheit“ (Hirschauer 2008: 168-9). Gleiches gilt auch für unser Erfahrungswissen, das immer schon von Alltagstheorien durchzogen ist. Wer unermüdlich Foucault gelesen hat, wird eher eine Sensibilität für Kontrollund Disziplinierungsregime entwickeln, gleich einem Erund Verlernen von Sprachspielen und ihren passenden Vokabularen. Was einem als untersuchungswürdig und erklärungsbedürftig gilt, hängt auch von unseren erlernten begrifflichen Vokabularen und praktischen Erfahrungen ab.
Ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm zeigt für diese wechselseitige Beziehung von theoriegeladener Empirie und erfahrungsgesättigter Theorie eine besondere Sensibilität durch das Interesse am Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken. Eine gegenstandsbezogene Aktualisierung kann dabei, wie illustriert, unterschiedliche Wege gehen. Im Folgenden soll plausibilisiert werden, wie ich in dieser Arbeit ‚Theorie' und ‚Empirie' aufeinander beziehen werde. Hierzu schreibt Hirschauer treffend:
„Wer meint, er finde soziale Wirklichkeit, überschätzt seine Wahrnehmung, wer meint, er erfinde sie, seine Imagination. [...]. Herausfinden ist eine detektivische Tätigkeit, die einige Tüftelei, aber auch Findigkeit und kombinatorischen Witz verlangt. Sie beginnt damit, sich in etwas hineinzufinden – mit dem Risiko, selbst nicht mehr recht aus ihm herauszufinden [...]. Dringend gesucht werden dabei Fragen, die tiefer in einen Gegenstand hineinführen. Erforderlich ist ferner Mobilität [...] eine soziale und verbale Gewandtheit, eine lokale und textuelle ‚Bewandertheit'. Und schließlich braucht es Theorie, aber eben nicht die eine Optik, die auf einen Schlag für theoretische Ladung sorgt und unbeirrbar genau das herausfindet, was zuvor hineinerfunden wurde, sondern variable konzeptuelle tools, die in der Auseinandersetzung mit den Daten investiert, verbraucht und bei Abnutzung weggeworfen werden – ein gleichzeitiges Einarbeiten und Herausarbeiten von Konzepten in und aus empirischem Material“ (Hirschauer 2008: 176; Herv.i.O.).
Diese Form detektivischer Tätigkeit impliziert sowohl Kreativität als auch Freiheit der Forschungspraxis. Neues Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es einen Unterschied macht zu bereits vorhandenen Beschreibungen (Hirschauer 2008: 176; Kratochwil 2007). Die methodischen tools der Datengewinnung und Datenanalyse bleiben stets unterdeterminiert, da sie sich am Gegenstand bewähren müssen – und eben nicht anders herum. Üblicherweise werden unter Methoden jedoch Verfahren der Datengewinnung und -interpretation verstanden, die eine Funktion der Normierung ausüben: die Kontrolle und Disziplinierung eines Untersuchungsgegenstandes sowie die Sicherung wissenschaftlich begründeter Aussagen.
Aus der Forderung nach einer Gegenstandsangemessenheit von Methoden können jedoch zwei unterschiedliche Konsequenzen gezogen werden (Hirschauer 2008: 179). Zum einen lässt sich eine radikale Pluralisierung beobachten, die dem Motto „pro Autor ein Verfahren“ folgt. Zum anderen zeigt sich eine radikale Relativierung, indem „einzusetzende Verfahren ein untrennbarer Bestandteil des Phänomens“ sind (Hirschauer 2008: 180). Die zentrale Funktion von Methoden sieht Hirschauer demnach weniger in ihrer Fähigkeit, Sinnstrukturen „zu schützen“, sondern darin „gegen die Mächtigkeit der schon bekannten theoretischen Vokabulare zu stärken und zu mobilisieren“ (Hirschauer 2008: 182). Zentrales Anliegen einer methodisch reflektierten Vorgehensweise ist dann, die Eigensinnigkeit der Gegenstände sichtbar zu machen (Hirschauer 2008: 183). [1] Forschung stellt sich als eine widerstreitende Praxis der Aneignung und Entfremdung zwischen Theorie und Empirie dar, die für gesellschaftsund sozialwissenschaftliche Arbeiten im Allgemeinen kennzeichnend ist. Diese Praxis soll anhand von drei Forschungsschritten umgesetzt werden: (1) Historisierung des Gegenstandes, (2) hermeneutische Rekonstruktion von Sinnstrukturen und (3) gegenstandsbezogene Theoretisierung von Diskursen und Praktiken. [2]
- [1] Zusammenfassend heißt es bei Hirschauer: „Theorien sind keine freien Erfindungen des Geistes, sondern erfahrungsgebunde, partikulare Sprachspiele. Empirische Phänomene sind kein solider Boden der Erkenntnis, sondern ein eigensinniges Gegenüber soziologischer Diskurse, aus dem in der Regel die phantasievolleren Einfälle resultieren. Und Methoden sind keine Instrumente zur Disziplinierung unwissenschaftlicher Neigungen und auch keine Gouvernante theoretischer Phantasien, es sind gegenstandsrelative Formen zur Sicherung des Innovationspotentials primärer Sinnstrukturen“ (Hirschauer 2008: 184; Herv. i.O.).
- [2] Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zu Yanow, die vier interpretative Momente eines Forschungsprozesses unterscheidet: erstens,die Beobachtung des Ereignisses; zweitens die Interpretation von Artefakten des Ereignisses, beispielsweise Dokumenten; drittens das Aufschreiben von Interpretationen,und viertens das Lesen (und Verstehen) des abschließenden Forschungsberichtes durch Dritte (Yanow 2006 b: 19-20). Auch Pouliot verwendet einen Dreischritt, jedoch in umgekehrter Reihenfolge: „One begins with the inductive recovery of agents' realties and practical logics, then objectifies them through the interpretation of intersubjective contexts and thereafter pursues further objectification through historicization. In the spirit of grounded theory and abduction, however, these three steps should not be conceived as a unidirectional, linear pathway” (Pouliot 2010: 65).