Gegenstandsbezogene Theoretisierung

Die gegenstandsbezogene Theorietisierung ist eine Aufgabe, die Hand in Hand mit der Gegenstandserschließung geht, wie Hirschauer dies beschrieben hat. Theoretisierung verweist dabei auf eine Form des wissenschaftlichen Schließens, die sich sowohl von einem deduktiven als auch induktiven Vorgehen unterscheidet. Die „abduktive Vermutung“, so Charles S. Pierce, „kommt uns wie ein Blitz. Sie ist ein Akt der Einsicht“ (Peirce 2004: 210). Dieser Akt der Einsicht setzt jedoch einen ergebnisoffenen Forschungsprozess voraus, denn

„das abduktive Schließen [zielt] darauf, neue Erklärungen für auf den ersten Blick ‚unverständliche' [...] Zusammenhänge aufzufinden. Diese zunächst rein hypothetisch formulierten neuen Annahmen müssen fortlaufend am empirischen Material überprüft und ggf. weiterentwickelt werden“ (Kleemann/Krähnke/ Matischek 2009: 24).

Mit Hilfe dieses re-iterativen Dialogs zwischen ‚Theorie' und ‚Empirie', d.h. einer kontinuierlichen Theoretisierung soll eine gegenstandsadäquate Komplexität aufgebaut werden, um die klassische Arbeitsteilung zwischen Theoretikern und Empirikern zu unterlaufen. „Nicht die Zurichtung eines Gegenstands im Hinblick auf seine Passfähigkeit [...] steht dann im Mittelpunkt“, so Herborth, „sondern der Versuch, ausgehend von konkreten Forschungsproblemen schrittweise Komplexität in dem Maße aufzubauen, das dem Gegenstand angemessen ist“ (Herborth 2010: 279). Als solch einen Aufbau von gegenstandsbezogener Komplexität lässt sich diese Arbeit verstehen. Denn nicht eine Theorie von Außenpolitik steht hier im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern eine Form der Theoretisierung von Außenpolitik, welche die Bedeutung von Außenpolitik problematisiert und ihren Zusammenhang mit der Herausbildung kollektiver Akteure historisiert.

Gegenstand von Kapitel 5 ist die Rekonstruktion des Prozesses, der zur Unterzeichnung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft am 27. Mai 1952 von Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden führte. Dieser Vertrag erlangte jedoch nie Gültigkeit, da die Ratifizierung in der französischen Nationalversammlung fehlschlug. Einige Leserinnen mögen verwundert sein, warum eine Rekonstruktion der Herausbildung einer EUropäischen Außenpolitik ausgerechnet mit diesem gescheiterten Projekt beginnt. Aus meiner Sicht sprechen mindestens zwei Gründe für solch eine Entscheidung: Zum einen neigt die Forschung über die Außenpolitik der EU zu einem historisch engen Verständnis, das nicht immer förderlich ist, um zu verstehen, wie Diskurse und Praktiken sich formieren und transformieren. Der zeitlich enge Blick verleitet oftmals dazu, sich in institutionellen Details zu verlieren. Zum anderen ist es gerade der EVG-Vertrag, der ein ambitioniertes Integrationsziel formuliert, das bisher kaum möglich erschien (und dann ja auch an den politischen Konstellationen in Frankreich scheiterte), nämlich der supranationalen Verschmelzung nationaler Armeen. Während die europäische Integrationsgeschichte sich oftmals auf die wirtschaftliche Kooperation konzentriert, steht ein sicherheitspolitisches Projekt zusammen mit dem Schuman-Plan am Anfang dieser Entwicklungen.

Dieses gescheiterte Projekt einer supranationalen Integration unter dem Vorzeichen einer gemeinsamen Verteidigungspolitik soll dann in einem zweiten Schritt in Kapitel 6 mit jenen Entwicklungen konfrontiert werden, die zur Institutionalisierung einer Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik geführt haben. Die ESVP ist seit der Vertragsreform von Nizza Bestandteil des gemeinsamen Rechtskorpus. Als zentrale Wegmarken werden in der Sekundärliteratur üblicherweise das bilaterale Treffen zwischen Frankreich und Großbritannien in St. Malo (1998), die Treffen des Europäischen Rats in Köln und Helsinki (1999), die Berlin-Plus Verhandlungen mit der NATO (2000) sowie schließlich die Formulierung einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie (2003), erste zivile und militärische „Auslandseinsätze“ (seit 2003) und die zunehmende rüstungspolitische und militärische Kooperationen (Europäische Rüstungsagentur, battle groups, A400M) genannt. Die ESVP ist – trotz aller Kritik an ihrer Ineffizienz und Ineffektivität – ein bedeutendes Integrationsprojekt, das weitreichende politische und normative Fragen aufwirft. Charles Tillys (1985;1990) Diktum vom „war making as state making“ erscheint hier ebenso bedenkenswert wie John Ruggies (1993) Prophezeiung, dass sich die EU zur ersten „postmodern polity“ entwickeln könne. Die Praxis einer gemeinsamen Sicherheits und Verteidigungspolitik könnte dann vielleicht ein wichtiger Indikator für einen Strukturund Formwandel politischer Ordnungen in der post-nationalen Konstellation sein (Habermas 1998).

Zusammenfassung und Ausblick

Zentrales Anliegen dieses Kapitels war, die methodologischen Entscheidungen der folgenden gegenstandsbezogenen Rekonstruktion zu begründen und zu reflektieren. Methoden im Sinne von Techniken des Lesens und Deutens müssen sich zuallerst am Gegenstand bewähren. Sie bleiben zwangsläufig unterdeterminiert und unspezifisch, um den Gegenstand selbst ‚zum Sprechen' zu bringen. Diese Unschärfe und Unbestimmtheit auf der Ebene der konkreten Methoden als Techniken steht eine Methodolgie gegenüber, die Kritik und Reflexion im Forschungsprozess fordert.

Eine konstruktivistisch-interpretative Methodologie impliziert, dass Untersuchungsgegenstände nicht einfach vorgefunden werden, sondern „eingerichtet“ werden müssen (Franke 2010). Für die Forschungsfrage nach der Herausbildung der EU als Sicherheitsakteur bedeutet dies, sich darüber zu verständigen, welche Art von Daten – Protokollen sozialen Handelns – für die Analyse herangezogen werden sollen. Doch welche Ebene außenund sicherheitspolitischer Kooperation europäischer Staaten kann darüber Aufschluss geben, welche Diskurse und Praktiken hier am Werke sind und die EU als globalen Sicherheitsakteur konstituieren?

 
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