EUropäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik – Eine Gegenstandsverortung
The way toward a European unity, in which sovereignty will inhere predominantly in the central authority, will apparently proceed through military alliance and economic integration to confederation, and then on to final full federation.
Ernst B. Haas (1948) The United States of Europe, in: Political Science Quarterly, 63: 4,
Einleitung
Stand bisher die Entwicklung eines kulturwissenschaftlichen Forschungsprogrammes und dessen methodologische Fundierung im Vordergrund, widmet sich das folgende Kapitel der Gegenstandsverortung. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie die Beziehungen zwischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik einerseits und Europa andererseits in der politikwissenschaftlichen Forschung – insbesondere der Integrationsforschung, den IB und der Außenpolitikanalyse – bisher thematisiert wurden. Diese drei Forschungsfelder sind alles andere als übersichtlich und überschaubar, sodass die folgenden Ausführungen eher den Gegenstand problematisieren als ihn klar definieren sollen.
Die europäische Integrationsforschung hat bisher ein eher geringes Interesse für die Frage nach einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik in und für EUropa gezeigt. Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus richten ihren Blick in erster Linie auf die Prozesse und Strukturen der wirtschaftlichen Integration. Die durch den Funktionalismus geprägte Differenzierung zwischen „high politics“ und „low politics“ hat zudem dazu beigetragen, Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik als domaine reservé des Nationalstaates fortzuschreiben (Bickerton/Irondelle/Menon 2011; Ohrgaard 1997). Zugleich ist das geringe Interesse der (theorieorientierten) IB für eine gemeinsame europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Rahmen der EU – und eben nicht nur der NATO – erstaunlich. Dieses Bild ändert sich jedoch, wie aktuelle Publikationen zeigen, die oftmals an der Schnittstelle zwischen IB, Integrationsforschung und Außenpolitikanalyse zu finden sind (Wilga und Karolewski 2014). Die Fortentwicklung der außenpolitischen Instrumente und Institutionen der EU im Rahmen des Lissabon Vertrages mag dafür ausschlaggebend sein, die GASP/ ESVP zunehmend als „genuine foreign and security policy actor“ wahrzunehmen (Wilga und Karolewski 2014: 1). Das vorrangige Interesse der Außenpolitikforschung schließlich ist auf die nationalen Außenpolitiken europäischer Staaten und deren Einbettung in eine gemeinsame Außenpolitik im Rahmen der EU, OSZE und NATO sowie eine Beschreibung des institutionellen Designs der GASP gerichtet. Auffällig ist dabei die starke Koppelung von deskriptiven und präskriptiven Arbeiten:
„The field as a whole is over-specialized in its descriptions and fragmented in its theoretical inquiry. Contrary predictions flow from similar assumptions and a loud normative debate dominates in the absence of systematic, empirically grounded theoretical inquiry“ (Bickerton/ Irondelle/Menon 2011: 10).
Diese Problematik der gleichzeitigen Überspezialisierung und Fragmentierung setzt sich bei der disziplinprägenden Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit fort. Transformationsdynamiken wie Internationalisierung, Regionalisierung, Europäisierung, Deund ReNationalisierung von Machtressourcen, Entscheidungsprozessen und Legitimationsdiskursen tragen jedoch dazu bei, dass dieser Dualismus von ‚innen | außen' durchlässiger geworden ist (Bigo 2001). Max Webers Definition des Staates als „diejenige Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimier physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht“, kann zwar immer noch als gültig angesehen werden (Weber 1919/2010: 8). Die institutionellen Arrangements und die politische Zielsetzung von Sicherheitspolitik sind jedoch nicht mehr ausschließlich auf den Staat fokussiert. Das Militär dient heute vielen Staaten nicht primär zur Landesverteidigung, sondern als Interventionsarmee im Namen des Schutzes internationaler (Menschen-) Rechtsnormen. Die Regierungen entsenden Polizisten ins Ausland, um dort Sicherheitsorgane aufzubauen und Polizisten vor Ort auszubilden.
Dass die EU kein Staat ist (und wohl auch keiner werden wird), ist immer wieder betont worden. Schrieben Stanley Hoffmann und Robert Keohane Anfang der 1990er Jahre noch, dass die EU eine „supranationality without supranational institutions“ (1991) sei, so haben die Vertragsreformen in Maastricht (1992/93), Amsterdam (1997/99), Nizza (2001/03) und Lissabon (2007/09) doch eine politische Ordnung entstehen lassen, deren Akteure, Strukturen und Entscheidungsprozesse auf nationaler, intergouvernementaler und supranationaler Ebene aufs Engste miteinander verschränkt sind und auch in den Bereich der Außenpolitik im Allgemeinen und der Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Besonderen ausgreifen. Zwar mag die EU kein Staat sein, vorrangig staatliche Aufgaben wie Sicherheit und Verteidigung werden aber zunehmend auch jenseits des Nationalstaates organisiert.
Im Folgenden soll der Gegenstand dieser Arbeit – Sicherheit in und Verteidigung für EUropa – eingehender aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven beleuchtet werden. Dieses Unterfangen erscheint hilfreich, um den besonderen Charakter EUropäischer Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik besser zu verstehen. Der zweite Teil dieses Kapitels widmet sich der Forschungsliteratur zur EVG und ESVP mit dem Ziel, blinde Flecken aufzuzeigen, die schließlich durch ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogram problematisiert und überwunden werden können.