Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik als Untersuchungsgegenstände
Die EVG: ein historisches Relikt
Die Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ist heute sowohl in der Politik wie auch in der Wissenschaft ein weitgehend vergessenes Projekt. 1954 an der Zustimmung der französischen Nationalversammlung gescheitert, gilt sie vielen als ein unrealistisches Unterfangen der supranationalen Integration von Streitkräften. Die Literatur über die Entstehung und das Scheitern der EVG lässt sich in erster Linie als historische Quellenarbeit bezeichnen (Furdson 1980; Lipgens 1984; 1985; Loth 1995; 1996; Noack 1977). Im Mittelpunkt steht dabei oftmals eine detaillierte Rekonstruktion der Verhandlungsund Entscheidungsprozesse vor dem Hintergrund der Interessen der beteiligten Regierungen. Dementsprechend finden sich eine Reihe an Publikationen, die sich mit den nationalen Politiken Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der USA, Italiens und der Benelex-Staaten beschäftigen. [1] Ein weiterer Teil der Arbeiten widmet sich der militärischen und sicherheitspolitischen Ausgestaltung der EVG im engeren (Guillen 1985) sowie dem Verhältnis zwischen NATO und EVG (Bebr 1955; Mai 1988). [2] Als Quellen dienen in diesen historischen Arbeiten sowohl Reden, (Parlaments-) Debatten, Communiqués, Aktenvermerke, interne policy-paper, Zeitungsartikel als auch Erinnerungen der beteiligten Politiker (Acheson 1987; Adenauer 1987; Eden 1960; Monnet 1983; Speidel 1977). [3] Im Forschungsinteresse steht zumeist eine Erklärung des Scheiterns der EVG, die „hauptsächlich auf die jeweils nationalen Interessenslagen sowie auf die Instrumentalisierung des Europagedankens für die unpopuläre westdeutsche Aufrüstung“ (Volkmann 1990: xiv) rekurriert.
Obgleich die EVG im Rahmen der (historischen) Integrationsforschung, so Loth (1995: 192), immerhin noch in Fußnoten Erwähnung findet, schenkt man ihr in der Europäischen Außenpolitikanalyse und den IB so gut wie keine Beachtung. Mir sind zwei Arbeiten bekannt, die explizit den Bogen von der EVG zur GASP spannen (Duke 2000; Kreft 2002). [4] Duke begründet (2000: 2): „Although the historical parallels can be overdrawn, there is a certain resonance between the questions asked in the 1950s and the 1990s“. Dies betrifft insbesondere die Rolle Deutschlands in einem geeinten Europa und die Beziehungen zu Frankreich, die Einbindung der USA in eine europäische Sicherheitsarchitektur und das Verhältnis Großbritanniens zum politischen Integrationsprozess. All diese Themen spielen nicht nur eine entscheidende Rolle bei den Diskussionen rund um die EVG, sondern auch im Rahmen der ESVP über 40 Jahre später. Michael Kreft hingegen stellt sich die Frage, warum die GASP geschaffen wurde und dennoch dysfunktional blieb (Kreft 2002: 18). Eine Erklärung für diese Anomalie sieht er im Einfluss von Ideen und Normen sowie dem kulturell-institutionellen Kontext der europäischen Integration. Vor diesem Hintergrund betont Kreft eine ideelle Kontinuitätslinie zwischen den Anfängen der sicherheitsund verteidigungspolitischen Integration in den 1950er Jahren und der formalen Institutionalisierung der GASP in den 1990er Jahren (Kreft 2002: 18).
Während Kreft die „kulturell-institutionelle(n) Kontexte als unabhängige Variable untersucht“ (Kreft 2002: 32), erscheint es doch fraglich, ob Kultur auf diese Weise positivistisch eingefangen werden kann. Die Frage, ob nun vermeintlich externe Faktoren wie die wahrgenommene Notwendigkeit einer Wiederbewaffnung Deutschlands oder interne Faktoren wie Ideen und Normen ursächlich für die EVG (oder GASP) sind, verkennt, wie durch außenpolitisches Handeln solche Notwendigkeiten und Ideen hergestellt und vollzogen werden (siehe Kapitel 2). Mögen auch in dieser Arbeit die EVG und die ESVP im Mittelpunkt der Rekonstruktion stehen, so geht es doch nicht darum, eine ideelle Kontinuitätslinie zwischen den 1950er und 1990er Jahren der europäischen Integration zu ziehen, sondern zu zeigen, wie Außenpolitik als Kultur stets praktisch vollzogen wird und institutionelle Konsequenzen zeitigt. Verschiebungen und Transformationen werden dadurch sichtbar, die sich in der Praxis oftmals als inkrementell und feinsinnig offenbaren mögen.
Zugleich soll nicht unerwähnt bleiben, dass der weitgehende Mangel an einer Theoretisierung der EVG in der Außenpolitikanalyse und den IB erstaunlich ist. Da sich Forscherinnen primär mit der NATO und der wirtschaftspolitischen Integration Europas im Rahmen der EGKS (später der EWG) beschäftigt haben, ist dieses außenund verteidigungspolitische Projekt der 1950er Jahre in Vergessenheit geraten. Man könnte nun mutmaßen, dass dies zu Recht geschehen ist. Die Gründe, warum die EVG kaum Beachtung findet, erscheinen mir jedoch wenig überzeugend zu sein. Zum einen mag es eine weitverbreitete Meinung sein, dass die Beschäftigung mit gescheiterten Projekten keinen theoretischen und empirischen Mehrwert für die IB erbringt. Ursachenforschung wird dann getrost dem Historiker überlassen. Zum anderen scheint die starke systemisch-strukturelle Prägung der IB und die vorrangig nationalstaatlichakteursbezogene Ausrichtung der Außenpolitikforschung gerade jene inter-gouvernementalen und transnationalen Praktiken und Diskurse zu übersehen, deren Zusammenwirken neue Formen von außenpolitischem Handeln hervorbringen kann.
Dieses Defizit an theoriegeleiteten Erklärungsversuchen der EVG aus einer originär politikwissenschaftlichen Perspektive ließe sich jedoch leicht beheben und könnte über die Versuche von Duke und Kreft weit hinausgehen. Hierfür bieten sich sowohl handlungstheoretische Ansätze zum bargaining und arguing (Deitelhoff 2006) oder zum Zusammenwirken und der wechselseitigen Beeinflussung von nationaler und internationaler Entscheidungsebene (two-level-games, Putnam 1988), klassische Integrationstheorien wie Föderalismus, Funktionalismus und Intergouvernementalismus, Akteur-Netzwerkanalysen (Latour 2005) als auch Arbeiten über epistemic communities (Haas 1992) an – oder eben Diskursund Praxisanalysen. Im Mittelpunkt steht dann die Rekonstruktion jener Diskurse und Praktiken, die im Handeln der Beteiligten mobilisiert und aktualisiert werden, um eine supranationale Integration der europäischen Streitkräft zu begründen, d.h. als sinnhaft und notwendig auszudrücken.
An dieser Stelle sollen auch ein paar Worte zur Quellenlage nicht fehlen: Während die außenpolitischen Akten der US-amerikanischen, der britischen und der deutschen Regierung editiert und frei zugänglich sind, trifft dies auf die französische Politik zwischen Juli 1949 und Juni 1954 leider nicht zu. [5] Eine fundierte Sammlung an zentralen Dokumenten ist über das CVCE, ein in Luxemburg angesiedeltes Forschungszentrum, verfügbar. [6]
- [1] Zum Überblick: Furdson (1980); Volkmann und Schwengler (1985); zur USA: Schöttli (1994); zu Westdeutschland: Baring (1969); Köllner et al. (1990); Schwarz (1979); zu Großbritannien: Jansen (1992); Mager (1990); Warner (1980); zu Frankreich: Clesse (1989); Goormaghtigh (1954); zu Italien: di Nolfo (1980); Magagnoli (1999); zu den Benelux-Staaten: Manning (1981).
- [2] Zahlreiche Publikationen zur Wiederbewaffnung Deutschlands und den Anfängen einer westdeutschen Außenund Sicherheitspolitik nach dem II. Weltkrieg behandeln die EVG meist am Rande (Baring 1969; Haftendorn 2001). Gleiches gilt für historische Arbeiten zu den Anfängen der europäischen Integration (Lipgens 1977; Lipgens und Loth 1988).
- [3] Insbesondere die Erinnerungen von beteiligten Experten, Diplomaten und Politikern sind jedoch mit einiger Vorsicht zu genießen, da hier nicht ein historisch fundiertes Nachzeichnen von Ereignissen im Vordergrund steht. Das Genre der Politiker-Erinnerungen dient oftmals dem Zweck, die eigene historische Bedeutung posthum festzuschreiben und Rechtfertigungen für das eigene Handeln zu entwickeln (Stichwort: Oral History, historische Anthropologie). Bei der Analyse von Memoiren geht es deshalb weniger um Wahrheitsfragen, sondern um den Sinn, den Beteiligte ihrem Handeln zuschreiben.
- [4] Mit der EVG hat sich auch Rittberger (2006) beschäftigt, jedoch primär im Lichte der Frage nach Institutionen und Repräsentationsformen.
- [5] Zur USA: Foreign Relations of the United States (FRUS), verfügbar unter: history.state.gov/historical documents (letzter Zugriff: 25.4.2013); zu Großbritannien: The National Archives, verfügbar unter: nationalarchives.gov.uk/documentsonline (letzter Zugriff: 25.4.2013); zu Westdeutschland: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1949/50, Bd. 1951, Bd. 1952, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte.
- [6] Siehe: cvce.eu/ (letzter Zugriff: 25.4.2013).