Die französische Positionierung
Zentrales Anliegen der wechselnden französischen Regierungen war, das wirtschaftliche und politische Potential Westdeutschlands soweit einzubinden, dass ein erneuter Krieg unmöglich würde. Darüber, wie dies geschehen sollte, waren die Meinungen jedoch gespalten. Während Monnet, Schuman und Pleven eine wirtschaftliche, verteidigungspolitische und schließlich politische Integration der westeuropäischen Staaten favorisierten, sahen Kritiker wie de Gaulle und Moch in dieser Politik eine Einschränkung, wenn nicht gar Gefährdung französischer Souveränität. Mit der Gründung der EGKS und der Aufnahme von Verhandlungen zur EVG und EPG hatten sich zunächst die Befürworter der Integration durchgesetzt. Erstaunlich erscheint dabei, wie die französische Regierung in der Lage war, einen idealistischen Diskurs der Friedenssicherung und Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich mit sicherheitspolitischen und geostrategischen Zielen zu verbinden. Um dauerhaft Frieden in Europa garantieren zu können, sollte Deutschland eben nicht (mehr) ausgeschlossen werden, sondern mit Frankreich zusammen den Nukleus einer neuen politischen (Friedens-) Ordnung in Europa bilden. Die Verwirklichung von ‚Sicherheit und Frieden' verdrängte zunehmend die Vorbehalte gegenüber einer Wiederbewaffnung Westdeutschlands. Entscheidend war aus französischer Perspektive jedoch, welche institutionelle Form diese verteidigungspolitische Integration der westeuropäischen Staaten erhalten sollte. Die Haltung gegenüber der NATO war daher keineswegs durch Ablehnung gekennzeichnet, hatten doch britische und französische Diplomaten wesentlich zur Bildung der Allianz unter Einschluss der USA beigetragen. Die Gründung der EGKS, EVG und EPG galt als Mittel, um Europa eine neue politische Ordnung geben zu können, damit nationalstaatliche Rivalitäten ein für alle mal der Vergangenheit angehören würden.
Gegenüber ihren US-amerikanischen Kollegen drängten einige französische Generäle bereits Ende der 1940er Jahre auf eine Initiative, die Verteidigung Europas gemeinsam zu planen und von den Deutschen einen angemessenen Beitrag zu verlangen (Guillen 1985: 125f.). Den ersten konkreten Vorschlag, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zu schaffen, unterbreitete Rene Pleven[1], Sozialist und französischer Ministerpräsident, im Oktober 1950. Die Initiative galt als ‚Alternative zum US-Vorschlag' der European Defence Force, die als Teil der NATO-Strukturen geplant war (Maier 1990: 14). Die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sollte Schumans Überlegungen zur wirtschaftlichen Integration Europas innerhalb der EGKS flankieren und schließlich im Rahmen einer politischen Gemeinschaft (EPG) zusammengeführt werden. Jean Monnet, Unternehmer und einflussreicher Ratgeber der französischen Regierung, äußerte im September 1950 gegenüber Außenminister Schuman,
„que la participation de l'Allemagne à la défense commune soit organisée dans le cadre européen supranational d'un Plan Schuman élargi – ce plan étant élaboré à l'initiative de la France, et la Grande-Bretagne et les Etats-Unis participant à son élaboration“.[2] Und wenige Wochen später schreibt Monnet in einem Vermerk an Pleven:
„Une solution, et une seule reste possible: la constitution d'une armée européenne incorporant dans de grandes unités communes des contingents allemands. Cette armée ne saurait résulter d'une simple intégration militaire dont les termes précaires ne masqueraient qu'une coalition selon des formules anciennes. Il faut à l'exemple de la solution adoptée pour le charbon et l'acier, réaliser par des institutions et un esprit nouveaux une véritable fusion organique de forces communes, dont le caractère purement défensif sera un facteur de paix“.[3]
So wie der Schuman-Plan die Schlüsselressourcen Kohle und Stahl vergemeinschaften sollte, um eine erneute Aufrüstung Deutschlands zu unterbinden, so galt für Monnet auch die Idee einer supranational integrierten Europaarmee als ‚Friedensfaktor'. Am 24. Oktober 1950 unterbreitete Premierminister Pleven der französischen Nationalversammlung diesen Vorschlag, der mit 349 zu 235 Stimmen angenommen wurde (Maier 1990: 14f.). In der Regierungserklärung heißt es:
„La mise sur pied d'une armée européenne ne saurait résulter du simple accolement d'unités militaires nationales, lequel, en réalité, ne masquerait qu'une coalition du type ancien. A des tâches inéluctablement communes, ne peuvent correspondre que des organismes communs. Une armée de l'Europe unie, formée d'hommes issus de diverses nations européennes, doit réaliser, dans toute la mesure du possible, une fusion complète des éléments humains et matériels qu'elle rassemble sous une autorité européenne unique, politique et militaire. Un ministre de la défense serait nommé par les gouvernements adhérents et serait responsable, sous des formes à déterminer, devant ses mandants, et devant une assemblée européenne“.[4]
Die Idee eines politisch und militärisch geeinten Europas („autorité européenne unique“) stellte aus französischer Sicht eine völlig neue Form politischer Ordnung dar. Obgleich die Formulierung „une coalition du type ancien“ als Hinweis auf die NATO verstanden werden könnte, führte Pleven eine Europaarmee recht nüchtern als Mittel zur Einigung Europas ein. Gegen wen oder was sich diese Armee richten könnte, blieb dabei erst einmal unklar.
Plevens, Monnets und Schumans Überlegungen zur militärischen Integration Europas bezogen sich zwar vorrangig auf die Frage, wie Frieden in Europa gesichert werden könne. Ein militärischer Wiederaufstieg Deutschlands und politischer Abstieg Frankreichs sollte aber gleichzeitig verhindert werden. Eine Verschmelzung im Militärischen ergab aus Sicht der französischen Regierung jedoch nur Sinn, wenn eine europäische politische Autorität geschaffen werden würde. In seinen Erinnerungen schreibt Monnet:
„Die Armee, die Waffen und die Basisproduktion mussten unter eine gemeinsame Souveränität gestellt werden. Wir konnten nicht, wie wir es vorgesehen hatten, darauf warten, dass Europa eines Tages eine wachsende Konstruktion krönte, denn eine gemeinsame Verteidigung konnte von Anfang an nur unter einer gemeinsamen politischen Oberhoheit konzipiert werden“ (Monnet 1978: 433).
Ähnlich äußerte sich auch Schuman gegenüber Staatssekretär Hallstein, indem er betonte, dass eigentlich solch ein militärisches Projekt am Ende, nicht am Anfang der europäischen Einigung stehen sollte. Schumans Sorge war vielmehr, dass eine Konferenz von militärischen Experten dominiert werde und das politische Projekt einer Einigung Europas dadurch aus den Augen geraten könnte. [5]
Gegen den Vorschlag einer supranationalen Integration des Militärs gab es jedoch auch in Frankreich erheblichen Widerstand. Monnet zitiert beispielsweise de Gaulle mit den Worten, die „französische Souveränität“ sei durch dieses „gekünstelte Projekt einer Armee bedroht“ (Monnet 1978: 463). Auch der französische Verteidigungsminister Jules Moch, Staatspräsident Vincent Auriol und der spätere Premierminister Mendès France standen dem Pleven-Plan und der EVG skeptisch gegenüber (Guillen 1985: 131). Vertreter des französischen Militärs sprachen sich dafür aus, zuerst die Bildung einer politischen Autorität voranzutreiben, so dass eine Europa-Armee am Ende die wirtschaftliche und politische Neuordnung Europas krönen würde (Guillen 1985: 133). Bei den militärischen Fragen erschien es ihnen aber ausgesprochen wichtig, eine Vorrangstellung Frankreichs gegenüber Deutschlands zu sichern (Guillen 1985: 139). Der Pleven-Plan wurde in der Nationalversammlung mit Mehrheit angenommen (343 zu 225), allerdings mit einem zusätzlichen Votum gegen den Wiederaufbau einer deutschen Armee und einer eigenen ständigen Generalität verbunden (Goor-maghtigh 1954: 98).
Das erste Treffen der Außenminister zur Gründung der EVG am 15. Februar 1951 wurde mit einem französischen Arbeitspapier eröffnet, in dem ein zweistufiger Verhandlungsprozess vorgeschlagen wurde: In den ersten 18 Monaten sollte ein Ausschuss der Verteidigungsminister einen Kommissar ernennen, der sich um die Planung und Standardisierung, die Organisation von Transport und Einsatz, sowie die Harmonisierung der Rekrutierungsregelungen und Kommandostrukturen einer Europa-Armee kümmern würde. Daran sollte eine zweite Phase unter Leitung des Europäischen Verteidigungsministers anschließen, um eine Integration der Verbände zu verwirklichen (Goormaghtigh 1954: 99). Die französische EVG-Delegation wurde von Botschafter Herve Alphand [6] geführt, der auch den Vorsitz übernahm. Im Wesentlichen gab es große personelle Überschneidungen mit dem Kreis derjenigen, die den SchumanPlan verhandelt hatten (Monnet 1978: 436). Mitglieder der französischen Delegation waren u.a. General Edgar de Larminat und Paul Stehlin, Berater des französischen Verteidigungsministers für Fragen der EVG, der zudem gut bekannt war mit Hans Speidel, dem Militärexperten in der deutschen EVG-Delegation (Speidel 1977: 298).
Nach den Wahlen vom 17. Juni 1951 führten erneut Rene Pleven als Ministerpräsident und Robert Schuman als Außenminister die französische Regierung an. Verteidigungsminister Moch, ein Kritiker der EVG, wurde aus seinem Ministeramt entlassen. Botschafter Alphand informierte die neue Regierung über den Stand der EVG-Verhandlungen, die sich um zwei zentrale Fragen drehten: Effizienz und Gleichbehandlung Westdeutschlands (Poidevin 1985: 102). Aus französischer Sicht war zudem problematisch, dass Großbritannien sich nicht an der EVG beteiligen wollte, um notfalls eine französisch-britische Koalition gegen ein wiedererstarkendes Deutschland bilden zu können. Der Regierungswechsel in London Ende Oktober 1951, durch den Churchill erneut zum Premierminister gewählt wurde, änderte an dieser Zurückhaltung nichts (Poidevin 1985: 105).
Auf dem NATO-Treffen im November 1951 in Rom berichtete Schuman von den EVGVerhandlungen, deren allgemeines Ziel es sei, eine europäische Streitkraft aufzustellen, die
„sufficiently strong to deter any intended agression“ (Maier 1990: 79) sein würde. [7] Schuman begründete erneut die Notwendigkeit der EVG – zum einen als „the dictates of effectiveness of the forces contemplated for Europe“, zum anderen als Garantie der „Western world“ gegen ein „revival of German militarism“ (Maier 1990: 79; eigene Herv.). In diesem Bericht weist Schuman auch darauf hin, dass militärische Berater der USA und Großbritanniens an den Verhandlungen beteiligt seien, sowie die Abstimmung zwischen EVG und NATO ein zentraler Aspekt der Beratungen sei. Zugleich blieben einige Probleme weiterhin ungelöst, insbesondere die Frage nach der politischen Einbindung der EVG, den militärischen Kommandostrukturen und der Finanzierung einer Europaarmee. Abschließend ging Schuman erneut auf die Gefahr einer Remilitarisierung Deutschlands ein:
„Neither the revival of the Wehrmacht, nor the neutralization of Germany meet the requirements of the present international situation. Only the integration of Germany in Europe [...] offers a valid solution“.[8]
Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen der wechselnden französischen Regierungen zwischen 1950 und 1952 war die Begründung einer supranationalen Integration im Rahmen der EGKS und der EVG wesentlich von dem Ziel getrieben, den Frieden in Europa durch eine wirtschaftliche und verteidigungspolitische Integration der westeuropäischen Staaten zu sichern. Dies bedeutete auch, das (militärische) Potential Westdeutschlands so einzubinden, dass eine deutsche Hegemonie nicht mehr möglich sein würde. Sowohl die Verbindung zur NATO als auch der Wunsch nach einer Vormachtstellung und Eigenständigkeit Frankreichs als globaler Akteur waren eher implizit. De Gaulles Ablehnung der EVG beispielsweise rekurrierte auf diesen Autonomieund Souveränitätsverlust Frankreichs, den er in einer supranationalen Armee sah (und 1966 auch gegenüber der NATO geltend machte).
- [1] Rene Pleven, 29. Oktober 1949 bis 12. Juli 1950 Verteidigungsminister, 12. August 1950 bis 28. Februar 1951 Ministerpräsident, 12. August 1951–7. Januar 1952 Ministerpräsident, 8. März 1952 – 19. Juni 1954 Verteidigungsminister. An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, dass wir uns in der IV. Republik Frankreichs befinden, die durch häufige Regierungswechsel gekennzeichnet ist.
- [2] Mémorandum de Jean Monnet à Robert Schuman, 16 septembre 1950; verfügbar unter: cvce.eu /viewer/-/content/259c61d1-8fee-488a-bf0d-6e0958e0d222/fr (letzter Zugriff: 25.4.2013).
- [3] Projet de note de Jean Monnet au Président du Conseil, 20 octobre 1950; verfügbar unter: cvce.eu/obj/entwurf_vermerks_jean_monnet_premierminister_20_oktober_1950-de-f29b58b4-8f 40-4380-a7bf-afb39bf1e4bf (letzter Zugriff: 25.4.2013). Auch der Europarat, dessen Mitglied die Bundesrepublik Deutschland seit einigen Monaten war, spricht sich bei seinem Treffen am 24. November 1950 für die Schaffung einer europäischen Armee aus. Für eine Sammlung von vorrangig deutschen Dokumenten, siehe:
Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe II: 9. Mai 1945 bis 4. Mai 1955, Bd. 3.
- [4] Déclaration de René Pleven sur la création d'une armée européenne, 24 octobre 1950; verfügbar unter: cvce.eu/viewer/-/content/4a3f4499-daf1-44c1-b313-212b31cad878/fr (letzter Zugriff: 25.4.2013).
- [5] berichtet in: Aufzeichnungen des Staatssekretär Hallstein, z.Z. Paris, 24. Oktober 1950, abgedruckt in: Akten zur Auswärtigen Politik, Bd. 1949/195, Dok. 134, S. 385.
- [6] Herve Alphand war u.a. Finanzattacheé der französischen Botschaft in Washington. Von August 1950 bis September 1954 diente Alphand als Vertreter Frankreichs (Botschafterrang) bei der NATO. Im Januar 1955 wurde er zum ständigen Vertreter Frankreichs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ernannt. Darauf folgte der Botschafterposten in Washington (1956) und der Posten des Generalsekretärs im französischen Außenministerium 1965.
- [7] Report by the French Foreign Minister (Schuman) to the North Atlantic Council, 27 November 1951, Rome; abgedruckt in: FRUS 1951, III, Teil 1, S. 933ff. Aus den Anmerkungen geht nicht hervor, ob das Original in Englisch oder Französisch verfasst war.
- [8] Report by the French Foreign Minister (Schuman) to the North Atlantic Council, 27 November 1951, Rome; abgedruckt in: FRUS 1951, III, Teil 1, S. 933ff.