Europäische und transatlantische Sicherheitspolitik
Neben dem Verhältnis von Souveränität und Integration war insbesondere die Beziehung zwischen (west-) europäischer und transaltantischer Sicherheitspolitik bedeutsam, die sich in der Parallelität von NATO und EGKS/EVG/EPG niederschlug. Die Schaffung einer Europa-Armee wurde auf US-amerikanischer Seite explizit unterstützt, zuerst jedoch als Teil der NATO-Strukturen konzipiert. Europäische und transatlantische Sicherheitspolitik wurden keineswegs als Gegensätze verstanden, sondern europäische Sicherheitspolitik sollte in einen transatlantischen Kontext eingebettet sein. Die NATO hatte für die US-amerikanische und westdeutsche Seite Priorität gegenüber der EVG, denn, so Adenauer, nur die USA (und ihre Nuklearwaffen) könnten dauerhaft eine Schutzfunktion für Westeuropa übernehmen.
Die französischen Vorbehalte einer transatlantischen Einbindung Westdeutschlands waren strategischer Natur, hätte eine NATO-Mitgliedschaft Westdeutschlands doch eine politische Gleichberechtigung und damit verbunden deutsche Veto-Position bedeutet. Zugleich stand die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik der politischen Integration Europas entgegen. EVG und EPG basierten auf dem Gedanken, dass die westeuropäischen Staaten auch jenseits der NATO (und der transatlantischen Gemeinschaft) Institutionen bilden müssten, um ‚Frieden' und ‚Wohlstand' in Europa zu schaffen.
Diese Notwednigkeit einer politischen Ordnung Europas jenseits rein sicherheitspolitischer Arrangements im Rahmen der NATO erkannte auch die US-amerikanische Administration an. Wurde zuerst die Idee einer Europa-Armee im State Department erarbeitet und als Bestandteil der NATO erörtert, so unterstützte die Regierung später voll und ganz das EVG-Projekt. Die besondere Rolle der USA zeigt sich ebenfalls in der Tatsache, dass man im State Department der Meinung war, den Franzosen eine entsprechende Initiative überlassen zu können, gleichzeitig die französische Regierung ihre US-amerikanischen Kollegen aber vorab über den Pleven-Plan informierte. Die enge Verbindung von europäischen und transatlantischen Sicherheitsfragen spiegelte sich demnach nicht nur im Diskurs, sondern auch in den Praktiken wieder (dazu unten mehr).
Trotz des anfänglichen Widerstandes der französischen Regierung wurde die EuropaArmee schließlich als Teil der NATO Kommando-Strukturen konzipiert und dem SACEUR untergeordnet. Adenauers Aussage, dass eine NATO-Mitgliedschaft in naher Zukunft für ihn vollkommen selbstverständlich war, bringt diese enge symbolische und institutionelle Verzahnung von europäischer und transatlantischer Sicherheitspolitik auf den Punkt. Die EVG sollte gerade nicht als ein Paralelloder Gegenprojekt zur NATO wahrgenommen werden, sondern die Einheit der transatlantischen Gemeinschaft, deren Teil (West-) Europa war, bestätigen und die Bundesrepublik Deutschland zu einem mehr und mehr gleichberechtigten Teil dieser Gemeinschaft machen.
Deutschland in Europa
In den vier bisherigen Diskursfragmenten ist bereits angeklungen, dass die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Rolle für die Gründung der EVG spielte. In dem Maße, wie sich die Wiederbewaffnung Westdeutschlands als notwendige – und ausschließliche – Antwort auf die Steigerung der Verteidigungsfähigkeit Westeuropas herauskristallisierte, gewann die Frage nach der institutionellen Einbindung Deutschlands an Bedeutung. Wärend auf dem Petersberg eine Veränderung des Besatzungstatuts zwischen den Alliierten und Vertretern der westdeutschen Regierung verhandelt wurde, sollte die EVG die politische und verteidigungspolitische Einbindung der BRD garantieren. Diese Einbindung Westdeutschlands in die westeuropäischen Verteidigungsstrukturen wurde vor dem Hintergrund einer politischen Einigung Europas plausibilisiert, d.h. nicht nur die Mobilisierung einer ‚westlichen Zivilisation', wie Jackson (2006) schreibt, diente der Re-Integration, sondern auch die politische Idee eines ‚in Frieden geeinten Europas'. Die besondere Rolle Deutschlands spiegelte sich insbesondere in den französischen Bemühungen wieder, eine NATO-Mitgliedschaft zu verhindern und der Bundesrepublik keine eigenständige Generalität zuzugestehen. Zugleich wurde jedoch anerkannt, dass ohne Deutschland das Integrationsprojekt nicht funktionieren würde, eine Verteidigung Europas schwerlich möglich war. Die westdeutsche Regierung und die Bevölkerung sollten einen eigenen Beitrag leisten und nicht nur passiver Nutznießer der Schutzgarantien der Alliierten-Truppen sein.
Deutschland – respektive die Bundesrepublik – war zugleich Subjekt und Objekt der frühen Integrationsbemühungen: Einerseits sollten EGKS, EVG und EPG eine erneute und gewaltsame deutsche Hegemonie verhindern; andererseits sollte dies nicht durch Formen der Gegenmachtsbildung, sondern durch Integration, Kooperation und Gleichberechtigung geschehen. In der Verrechtlichung der Beziehungen im Rahmen der neu gegründeten Institutionen sah man ein Mittel, das Machtstreben der Staaten zu brechen.