Die französische Positionierung

Während die britische Positionierung nach dem Gipfeltreffen von St. Malo oft als ‚revolutionäre Wende' bezeichnet wird, erscheint die Positionierung der Regierung Chirac vielen Kommentatoren als die traditionelle Fortsetzung französischer Autonomiebestrebungen in der Sicherheitsund Verteidigungspolitik (z.B. Kaim 2007: 272). Ihrem Selbstverständnis als Großmacht mit globalem Anspruch entsprechend war auch für die französische Politik die ‚Hilflosigkeit' der EU und Abhängigkeit von den militärischen Fähigkeiten der USA während der Kriege in Südosteuropa ein prägendes Ereignis. Seit 1966 nicht mehr Teil der integrierten Kommandostruktur der NATO brachten die meisten französische Politiker der Allianz traditionell eine gewisse Skepsis entgegen. De Gaulles Idee, Europa als dritte Kraft zwischen den USA und der UdSSR aufzubauen – L'Europe Puissance – erfreut sich großer Beliebtheit im außenpolitischen Diskurs Frankreichs (Gordon 1993).

Klar erschien jedoch auch, dass solch ein Projekt der Autonomiesteigerung und Emanzipation von den USA so lange abgelehnt werden würde, wie man es als Partikularinteresse französischer Politiker und potentielle Gegenmachtbildung zur NATO wahrnahm. Aus einer realpolitischen Perspektive betrachtet könnte man mutmaßen, dass die sicherheitsund verteidigungspolitische Zusammenarbeit mit der (west-) deutschen Regierung nicht nur einer Einbindung Deutschlands, sondern auch einer Legitimierung der französischen Politik diente. Gleiches ließe sich über die St. Malo-Initative sagen, die gerade den Schulterschluss mit der britischen Regierung und deren transatlantischer Orientierung suchte.

Die ESVP symbolisierte im französischen Diskurs folglich den Kristallisationspunkt einer ganzen Reihe an Vorschlägen: als ein weiteres Projekt zur politischen Integration Europas; als Lastenausgleich in der NATO und mögliche Annäherung Frankreichs an die militärischen Strukturen der Allianz; als Modernisierung der französischen Armee; als Vorsorge für den Fall, dass sich die USA sicherheitspolitisch aus Europa zurückziehen würden; als Garantie gegen eine militärische Dominanz Deutschlands. Bereits Präsident Chirac hatte Mitte der 1990er den Versuch unternommen, Frankreich in die integrierte Militärstruktur der NATO zurückzuführen – jedoch ohne Erfolg. Seine Bedingung, das Frankreich das European Command of Allied Forces Southern Europe (AFSOUTH) übernehme, scheiterte an der Zustimmung aus Washington (Ghez und Larrabee 2009: 78). Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, warum die Clinton-Administration der ESVP skeptisch gegenüberstand und dieses Projekt aus französischer Perspektive eine mögliche Alternative zur NATO darstellte.

Der französische Außenminister Hubert Vedrine prägte bereits in den 1990er Jahren den Begriff der „Hyperpuissance“ als Bezeichnung der einzigartigen weltpolitischen Stellung der USA. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der UdSSR seien die USA eine Übermacht ohne Konkurrenz, deren sicherheitspolitischen Interessen nicht mehr ausschließlich in Europa zu verorten seien (Vedrine 2000). Mit dieser Beschreibung einer unipolaren Weltordnung verband Vedrine die Forderung nach einem neuen Verhältnis zwischen Europa und den USA, das politisch und militärisch ausgeglichener sein müsse. Das in der französischen Politik positiv konnotierte Schlagwort eines Gleichgewichts machte schnell die Runde. Die ungleichen Fähigkeiten der US-amerikanischen und der europäischen Streitkräfte sollten durch die Entwicklung einer autonomen ESVP behoben werden (Meiers 2000: 26). Im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung hatten französische Politiker kein großes Interesse daran, diese Diskussion auf eine mögliche Integration der WEU in die EU zu beschränken (Jopp 1999: 5). Vielmehr sollten Strukturen geschaffen werden, die eigenständige Entscheidungen der EU-Mitglieder ermöglichten.

Der französische Wunsch nach autonomen Entscheidungsstrukturen stieß jedoch in Washington auf Kritik. Sollte damit eine Duplizierung bestehender Arrangements, eine Diskriminierung von Nicht-EU, aber NATO-Mitgliedern sowie schließlich eine Entkoppelung von NATO und EU gemeint sein, lehne man die ESVP ab (dazu unten mehr). Der französische Verteidigungsminister Alain Richard sah sich wiederholt mit solchen kritischen Fragen USamerikanischer Kollegen konfrontiert. Anlässlich einer Rede an der Georgetown University stellte er klar: „It is very simple: We want the Europeans to be able to put out fires in their own backyards, with the Americans where you want to join, without where you don't. With this, you know it all“.[1] Dass die Angelegenheit keinesfalls so klar und simpel war, ist nur allzu deutlich. Auch der französische NATO-Botschafter, Gerard Errera, versuchte seinen transatlantischen Kolleginnen klar zu machen, dass die ESVP keine Konkurrenz zur NATO sei, sondern aus der EU zu "un partenaire fiable, un partenaire responsable“ machen solle. [2]

Dieser Wunsch nach Handlungsfähigkeit und einer geringeren Abhängigkeit von den USA implizierte gleichsam die Stärkung der EU als eigenständige Macht – und eben ‚nicht nur' eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO (ESVI). Präsident Chirac bringt dies anschaulich in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck:

„Gehör verschafft sich die Europäische Union über ihre Grenzen hinaus. Sie setzt sich für eine ausgewogenere Organisation des Welthandels ein, die zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen beiträgt und die kulturelle Vielfalt in der Welt achtet. Sie setzt sich für eine wirkliche Solidarität zwischen reichen und armen Ländern ein und gibt mit ihrer aktiven Entwicklungshilfepolitik ein gutes Beispiel. Sie setzt sich für den Frieden und die Beendigung von Barbarei ein und handelt dementsprechend. Hierbei denke ich selbstverständlich an unser gemeinsames Engagement in Bosnien und im Kosovo, bei dem der eigentliche Sinn unseres europäischen Projektes – wie Sie es und wie wir es verstehen – seinen Niederschlag findet. Dieser ethische Anspruch, dem zu genügen wir uns gemeinsam verpflichtet haben, rechtfertigt es in unseren Augen, dass sich Europa unter Achtung seiner Bündnisse künftig die Mittel für eine eigene Außenund Sicherheitspolitik gibt“.[3]

Interessant an Chiracs Ausführungen ist, dass eine „eigene Außenund Sicherheitspolitik“ der EU damit gerechtfertigt wird, dass aus dem Handeln der Gemeinschaft ein „ethischer Anspruch“ erwachse. [4] Dieser ethische Anspruch speist sich aus all den ‚guten Taten', welche die EU vollbringt: der Einsatz für bessere Lebensverhältnisse und „wirkliche Solidarität“ zwischen armen und reichen Ländern, die Achtung kultureller Vielfalt und die Beendigung von Barbarei. Zugleich verschaffe sich die EU über „ihre Grenzen hinaus“ „Gehör“ – eine eher machtpolitisch anmutende Formulierung, die einen Geltungsanspruch zum Ausdruck bringt.

Wenige Wochen vor Chiracs Rede im Deutschen Bundestag hatte Verteidigungsminister Richard mit seinen Aussagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung jedoch für Aufsehen gesorgt. Die Zeitung betitelte ein Interview mit der Schlagzeile „Richard: Großbritannien interessanter als Deutschland“ (FAZ, 8. Juni 2000). Am darauffolgenden Tag wurde berichtet, dass Scharping die Kommentare seines französischen Amtskollegen „nicht überbewerten“ wolle. Richard brachte in einem folgenden Brief an die FAZ über die Titelwahl sein „große(s) Erstaunen“ zum Ausdruck und stellte klar, dass eine „konkrete Nähe der französischen und deutschen Meinungen in der Sicherheitspolitik wie auf allen Gebieten des europäischen Aufbaus seit Jahrzehnten“ bestehe (FAZ, 9. Juni 2000). Interessant ist dieser Vorfall insofern, als er den rituellen und symbolischen Gehalt der deutsch-französischen Zusammenarbeit zum Ausdruck bringt. Der französische Verteidigungsminister musste sich hier dafür rechtfertigen, warum von der Praxis der gemeinsamen Positionierung abgewichen wurde. Die Gründe, warum die britische Regierung „interessanter als Deutschland“ war, lagen für die beteiligten Politiker jedoch auf der Hand. Auf den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen in einem Interview von Le Monde und Die Zeit angesprochen antworten Fischer und Vedrine:

Die Zeit: In der Bundesrepublik sprach Kanzler Schröder von einem Dreieck mit Großbritannien. Und Frankreich hat die eine oder andere Initiative – Verteidigungspolitik beim Treffen in Saint-Malo, Kosovo-Politik bei der Konferenz von Rambouillet – gemeinsam mit den Briten unternommen, an Deutschland vorbei.

Fischer: Lassen Sie mich ironisch antworten: In jeder Ehe gibts Seitenblicke. Aber unsere Ehe ist von so guter Qualität, dass das alles Episoden sind. Im Übrigen bietet das Verhältnis zu Großbritannien eine gute Ergänzung zu dieser Ehe.

Vedrine: Saint-Malo hat allen Europäern genützt. Und Deutschland war nicht ‚ausgegrenzt' in Rambouillet, es war assoziiert, hatte aber mit der Agenda 2000 viel zu tun. Im deutsch-französischen Verhältnis gibt es zu viele Leute, die damit spielen, sich selber Angst zu machen vor der „Krise“. Jede Meinungsverschiedenheit bei Verhandlungen – und so was ist nun wirklich banal – wird zum Drama hochstilisiert. Mehr Gleichmut wäre besser. Man kann die deutsch-französische Zusammenarbeit mit anderen Beziehungen befruchten, sie für andere öffnen – man kann sie nicht ersetzen“.[5]

Die Bemühungen, eine eigenständige Verteidigungskomponente für die EU zu schaffen, waren seit langem Bestandteil der deutsch-französischen Zusammenarbeit. [6] Mit dem Elysse-Vertrag, 1963 von Bundeskanzler Adenauer und Präsident de Gaulle unterzeichnet, wurde die Verpflichtung eingegangen, sich gegenseitig über alle wichtigen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Jugendund Kulturpolitik zu informieren. [7] Im Jahr 1987 wurde die deutsch-französische Brigade eingerichtet, die seit Mai 1992 Teil des Eurocorps ist, an dem sich weitere EU-Staaten mit Truppen beteiligten. [8] Bereits in dem gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheitsund Verteidigungskonzept vom 6. Dezember 1996 hieß es:

„Für unsere beiden Länder muß die Europäische Union eine solidarische Gemeinschaft darstellen, auch im Verteidigungsbereich. Wir treten daher ein für die Verwirklichung der verteidigungspolitischen Perspektive des EU-Vertrages. In diesem Sinne verfolgen unsere beiden Länder gemeinsam das Ziel, die WEU zu gegebener Zeit in die Europäische Union zu überführen. Die Europäer müssen in der Lage sein, eine Operation in eigener Verantwortlichkeit durchzuführen, auch unter Nutzung von Mitteln der Allianz“.[9]

Das Projekt einer gemeinsamen Verteidigungspolitik war aus französischer Perspektive Teil der politischen Integration Europas hin zu einer solidarischen Gemeinschaft, gar einer „Verteidigungsunion“: L'Europe de la Défense. [10] Zusammen mit der britischen und deutschen Regierung sollte dieses Projekt nun verwirklicht werden.

  • [1] Rede von Alain Richard, 23. Februar 2000, Georgetown University, Washington D.C.; verfügbar über: vie-publique.fr/ (letzter Zugriff: 25.4.2013).
  • [2] European Defence: European and American Perceptions, Allocation de Gerard Errera, Secrétaire Général adjoint, Direction Générale pour les Affaires Politiques et de Sécurité, Ministère des Affaires étrangères, Paris, WEU Institute for Security Studies, Transatlantic Forum, Paris, May 18, 2000; abgedruckt in: WEU Institute for Security Studies, Occassional Paper 17 (ed. Julian Lindley-French). Und weiter heißt es dort: „Ce qui menace l'Alliance, ce n'est pas la volonté des Européens de prendre les moyens d'assumer leur responsabilité. Ce qui menacerait l'Alliance, c'est si les Européens ne prenaient pas les moyens, ne faisaient pas ce qu'ils font, car là nous aurions très vite l'accumulation de frustrations de part et d'autre“. Errera, langjähriger Diplomat, gilt als einer der Architekten der Erklärung von St. Malo. Er war von 1995-1998 Botschafter Frankreichs bei der NATO.
  • [3] Unser Europa, Rede von Jacques Chirac vor dem Deutschen Bundestag, 27. Juni 2000, Berlin; verfügbar unter: bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/chirac/chirac1.html (letzter Zugriff: 25.4.2013).
  • [4] Diese Beschreibung der EU als 'ethical power' hat es sogar in die politiknahen Debatten geschafft, vgl. das Sonderheft von International Affairs, 84: 1, 2008. In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich eine Reihe an Metaphern zur Bezeichnungen für die EU-Außenpolitik finden (Carta 2014).
  • [5] Das neue Tandem, Joschka Fischer und Hubert Védrine im Gespräch mit Der Zeit und Le Monde, 28. Oktober 1999.
  • [6] Zur deutschen ESVP-Politik, vgl. u.a. Hellman/Wagner/Bösche (2006); Kaim (2007); Marchetti (2009); Meiers (2002); Meiers (2005); Peters (2010). Zur französischen ESVP-Politik, vgl. u.a. Boyer (2002); Kaim (2007); Marchetti (2009),.
  • [7] Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit, 22. Januar 1963, Paris. Seit 1988 Besteht ein deutsch-französischer Sicherheitsund Verteidigungsrat: „Der Rat wird von den Staatsund Regierungschefs, den Außenund den Verteidigungsministern gebildet. Der Generalstabschef der französischen Streitkräfte und der Generalinspekteur der Bundeswehr nehmen qua Amt daran teil“ (Protokoll vom 22. Januar 1988 zum Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963; verfügbar unter: france-allemagne.fr/Deutsch-Franzosischer,0582.html, letzter Zugriff: 25.4.2013).
  • [8] Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungsund Sicherheitsrat, 59. Deutsch-Französischer Gipfel in La Rochelle, 22. Mai 1992; verfügbar unter: france-allemagne.fr/59-Deutsch-Franzosischer- Gipfel-in,320.html (letzter Zugriff: 25.4.2013).
  • [9] Gemeinsames deutsch-französisches Sicherheitsund Verteidigungskonzept, 68. Deutsch-Französischer Gipfel, 9. Dezember 1996; verfügbar unter: france-allemagne.fr/Gemeinsames-deutsch-franzosisches ,335.html (letzter Zugriff: 25.4.2013).
  • [10] Dazu heißt es auf der Internet-Seite des französischen Verteidigungsministeriums: „La défense européenne ne signifie pas la défense collective des pays européens contre une agression extérieure, qui reste garantie par l'OTAN, mais la gestion des crises à l'extérieur de l'Union européenne. Les pays européens ont d'abord cherché à sécuriser une zone aux frontières de l'Europe, donc potentiellement perturbatrice voire même dangereuse pour leur propre sécurité nationale“ (verfügbar unter: defense.gouv.fr/das/relations-internationales /l-europe-de-la-defense, letzter Zugriff: 25.4.2013).
 
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