Die deutsche Positionierung
Die sicherheitspolitischen Veränderungen der frühen 1990er Jahre haben eine politische wie auch wissenschaftliche Diskussion über die Ziele und Mittel deutscher Außenund Europapolitik befördert. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der deutschen Wiedervereinigung hätten sich, so einige Kommentatoren, die Rahmenbedingungen und Grundlagen deutscher Außenpolitik wesentlich geändert. Zwar würde Deutschland weiterhin Mitglied der EU und NATO bleiben, eine oftmals als vorbehaltlos wahrgenommene Unterstützung dieser Institutionen erschien aber einigen Beobachtern nicht mehr selbstverständlich. Zugleich konstatierten zahlreiche Experten, dass die sich verändernden Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig zu einem Wandel deutscher Außenpolitik geführt hätten. Diese zeichne sich weiterhin durch Multilateralismus und Antimilitarismus, die Betonung ziviler Mittel und eine Unterstützung der europäischen Integration, inklusive supranationaler Institutionen aus (Kaim 2007: 200; Marchetti 2009: 108; Regelsberger 2002: 35). Die ‚Zivilmacht Deutschland', so die gängige These, fühle sich weiterhin der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen verpflichtet. Skepsis gegenüber dieser Kontinuitätsthese wurde insbesondere aus dem realistischen Lager geäußert. Das wiedervereinte Deutschland werde bald zu einer klassischen – und womöglich unausweichlichen – Machtund Interessenspolitik zurückkehren (exemplarisch: Mearsheimer 1990). Vor diesem Hintergrund stellte sich in der ESVP-Debatte auch die Frage nach einer möglichen Neujustierung deutscher Außenund Europapolitik und ob die „parteiübergreifende Bejahung und Unterstützung des europäischen Einigungsprojektes“ (Marchetti 2009: 100) weiterhin gelten würde. Schröders Rede vom „wohlverstandenen Eigeninteresse“ markierte eine Veränderung im Diskurs, wenn diese von einigen Kommentatorinnen lediglich als „veränderte(n) Politikstil“ (Regelsberger 2002: 35) bezeichnet wurde.
Die Begründung der ESVP folgte dabei einem gängigen Argumentationsmuster. Im Lichte begrenzter Lösungskapazitäten des Nationalstaates schien eine stärkere Kooperation im sicherheitsund verteidigungspolitischen Bereich zur Effizienzsteigerung und Kosteneinsparung sinnvoll (Marchetti 2009: 102f.). Eine Thematisierung von Sicherheitsund Verteidigungsfragen auf europäischer Ebene eröffnete der deutschen Bundesregierung zudem die Chance, die Forderungen nach einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement mit der Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten als außenpolitische Handlungsmaxime zu verbinden. Zentrale Prinzipien deutscher Außenpolitik, so Kaim, wurden auf eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik übertragen (2007: 205).
Die deutsche Bundesregierung legte bereits im Februar 1999 im Rahmen der WEU ein Diskussionspapier vor, in dem Krisenmanagement als zentrale Aufgabe und fünf Optionen für mögliche Einsätze benannt wurden. [1] Mit diesen fünf Optionen umriss die deutsche Ratspräsidentschaft im Wesentlichen den Diskussionsrahmen und strukturierte mit einer Reihe an Fragen den Diskussionsprozess, z.B. ob die EU über ein militärisches Komitee verfügen solle. [2]
Dass dieses Papier als „Informal Reflection“ betitelt war, verdeutlicht, dass die Diskussionen über die zukünftige Beziehung zwischen NATO und ESVP erst am Anfang standen. Verbindlichkeit und konkrete Vorschläge sollten gemeinsam erarbeitet werden.
Während aus französischer und britischer Sicht die militärische Komponente der ESVP im Vordergrund stand, trat die deutsche Bundesregierung (unterstützt von den skandinavischen und neutralen Mitgliedern) dafür ein, auch zivile Kapazitäten zum Krisenmanagement und zur Krisenprävention aufzubauen. [3] Hintergrund dafür waren die ‚Lehren', die man aus dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens zog. In der Wochenzeitung Die Zeit schrieb Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Februar 1999:
„Wer bis dahin noch nicht davon überzeugt war, dem hat das Management dieser Krise deutlich gemacht, wie dringend die Verwirklichung einer gemeinsamen europäischen Außenund Sicherheitspolitik ist, einschließlich der gemeinsamen Verteidigungspolitik. Ziel dieser gemeinsamen Politik muß es sein, daß Europa in internationalen Angelegenheiten mit einer Stimme spricht und in der Lage ist, seine Interessen entschlossen und wirkungsvoll zu vertreten. Nur dann können die europäischen Staaten nachhaltig zu mehr Sicherheit und größerer Stabilität in und für Europa beitragen. Die neuen strategischen Gegebenheiten verlangen, krisenhaften Entwicklungen dort entschlossen entgegenzutreten, wo sie entstehen, und nicht tatenlos zuzusehen, bis deren Folgen für die europäische Sicherheit unausweichlich sind. Europa muß politisch und militärisch handlungsfähig werden und sich seiner Verantwortung für die europäische Sicherheit stellen. Dies ist auch eine Frage der transatlantischen Solidarität und einer gerechteren Lastenteilung mit unseren amerikanischen Verbündeten“.[4]
Die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik, so Scharping, ergebe sich aus der „Verantwortung“, selbst für die „europäische Sicherheit“ sorgen zu können. Dies impliziere zugleich einen pro-aktiven Ansatz, nämlich Sicherheitsproblemen dort begegnen zu können „wo sie entstehen, und nicht tatenlos zuzusehen“. Der Verantwortungs-Diskurs, den Scharping hier mobilisiert, wird zugleich mit der Vertretung von „Interessen“ verbunden. Da „Europa“ Träger dieser Interessen sei, müsse „Europa“ auch zum handelnden Subjekt werden, so dass es „mit einer Stimme spricht“.
Bundeskanzler Schröder brachte diese Verbindung von Interessensund Wertepolitik, die über rein „idealistische Zielvorstellungen“ deutscher Außenpolitik (Kaim 2007: 2004) hinausreicht, treffend im November 1999 in der französischen Nationalversammlung auf den Punkt:
„Für mich bedeutet wohlverstandene Interessenpolitik die Verfolgung von Zielen, die wir Europäer, aber insbesondere wir Deutschen und Franzosen teilen: Vornehmlich denke ich dabei an die Sicherung von Frieden, Freiheit, Wohlstand und unsere eigene nationale wie europäische Identität. [...] Meine Damen und Herren, das Europa der Zukunft muss seine Interessen weltweit wirkungsvoll vertreten können. [...]. Europa darf international nicht Beobachter sein, sondern muss als starker Akteur auftreten, der die Schaffung der globalen Ordnung für das 21. Jahrhundert entscheidend mitbestimmt. Dies setzt voraus, dass wir Europäer in der Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anliegen gemeinsam und wirkungsvoll Geltung verschaffen. [...] Unsere Verantwortung, aber auch unser Selbstwertgefühl als Europäer gebieten es, dass wir Europäer selbst uns mit den hierzu notwendigen Mitteln ausstatten. [...] In Frankreich hat man den Begriff ‚Europe Puissance' geprägt, der treffend unser gemeinsames Ziel bestimmt“.[5]
Voraussetzung für die Durchsetzung der eigenen „Interessen“, so Schröder, ist, „dass wir Europäer in der Welt mit einer Stimme sprechen“. Wenn „wir Europäer“ nicht nur „Beobachter“, sondern Gestalter sein wollen, müsse man sich mit den „notwendigen Mitteln ausstatten“. Zwar steht diese Interessenspolitik bei Kanzler Schröder ganz im Zeichen der Durchsetzung gemeinsamer Werte wie etwa „Frieden, Freiheit, Wohlstand“, aber eben mit einem Anspruch auf Anerkennung als „starker Akteur“.
Die Verbindung dieser eher machtpolitisch anmutenden Forderungen Schröders zur konkreten Institutionalisierung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik kristallisierte sich im Laufe der Debatte über die „Finalität“ der EU Anfang 2000 heraus. Außenminister Fischer formulierte in einer viel beachteten Rede an der Humboldt-Universität in Berlin:
„Die europäischen Staaten haben, gerade unter dem Eindruck des Kosovokrieges, weitere Schritte zur Stärkung ihrer gemeinsamen außenpolitischen Handlungsfähigkeit ergriffen und sich in Köln und Helsinki auf ein neues Ziel verständigt: die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik. Die Union hat damit – nach dem Euro – den nächsten Schritt getan. Denn wie sollte man auf Dauer begründen, dass Staaten, die sich durch die Währungsunion unauflösbar und in ihrer ökonomisch-politischen Existenz miteinander verbinden, sich nicht auch gemeinsam äußeren Bedrohungen stellen und ihre Sicherheit gemeinsam gewährleisten?“. [6]
Fischer verweist hier auf zentrale Aufgaben des Nationalstaates, die er in der Währungspolitik und der Gewährleistung von innerer und äußerer Sicherheit sieht. All dies deutet er als Schritt hin zur „Finalität“ der europäischen Integration in einer „Europäischen Föderation“ – einer bundesstaatlichen Ordnung, wie dies einst der EVG-Vertrag entwarf. Außenminister Fischer mobilisiert hier schlussendlich ein historisches Narrativ, das eine gewisse Analogie zwischen dem Prozess europäischer Staatenbildung seit dem Westfälischen Frieden und der europäischen Integration seit den 1950er Jahren impliziert.
Überraschend ist jedoch, dass die St. Malo Initiative ohne die deutsche Bundesregierung erfolgte – diese „begrüßte“ den Vorstoß der britischen und französischen Regierung lediglich (Marchetti 2009: 105). Die Forderung nach einer europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik war seit längerem ein gemeinsames Anliegen der deutschen und französischen Regierung gewesen. Die Erklärungen des deutsch-französischen Verteidigungsund Sicherheitsrats zeugen von der Entschlossenheit, die Chance zur Verwirklichung einer „Verteidigungsunion“ nun zu nutzen. In der Erklärung von Freiburg im Juni 2001 hieß es beispielsweise:
„Deutschland und Frankreich bekräftigen ihre Entschlossenheit, die Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik zügig weiter voranzubringen, damit die Europäische Union im internationalen Rahmen ihre Rolle in vollem Umfang spielen kann. Die Europäische Union muss in die Lage versetzt werden, über die gesamte Bandbreite des zivilen und militärischen Instrumentariums zur Verhinderung und Bewältigung von Krisen zu verfügen. Die ausgewogene Entwicklung ziviler und militärischer Fähigkeiten verleiht der EU ihren besonderen Charakter auf dem Gebiet der Krisenbewältigung“.[7]
Auch hier wird darauf verwiesen, dass die EU einer „Rolle“ gerecht werden müsse und daher Mittel und Fähigkeiten zur „Verhinderung und Bewältigung von Krisen“ benötige. Von den unterschiedlichen Akzentuierungen der französischen und deutschen Regierung zeugt die Verbindung von militärischen und zivilen Instrumenten – insbesondere letztere lagen den nordischen und neutralen Mitgliedstaaten am Herzen, um den Eindruck einer Militarisierung der EU entgegen zu wirken und gerade jene Fähigkeiten auszubauen, die der EU genuin zugeschrieben wurden. Denn dieser zivil-militärische Ansatz sollte zum Markenzeichen und Distinktionsmerkmal der EU im Vergleich zur NATO sowie zu ihren Nationalstaaten werden.
- [1] (1) NATO-Einsätze an denen alle NATO-Mitglieder teilnehmen; (2) NATO-plus Einsätze an denen sich neben den NATO-Mitglieder beispielsweise Partner aus dem PfP-Programm beteiligen; (3) NATO-Einsätze an denen sich nicht alle Mitglieder mit Truppen beteiligen; (4) EUoder WEU-geführte Einsätze, die auf Fähigkeiten der NATO zurückgreifen und schließlich (5) autonome EUoder WEU-geführte Einsätze, die ohne einen Rückgriff auf NATO-Ressourcen durchgeführt werden.
- [2] „What institutional arrangements would be required? What should be the organisational link with NATO? How can the necessary know how be introduced in EU decision-making with the aim to provide for capabilities to conduct political control and strategic direction? Do we need regular meetings (or ad hoc) of the General Affairs Council together with Defence Ministers? Do we need independent Defence Ministers meetings? What would be the permanent body equivalent to the WEU Council? Do we need a EU military Committee?“ (German Presidency paper: Informal reflection at WEU on Europe's security and defence, 24 February 1999, Bonn; abgedruckt in: Chaillot Paper 47, Dokument 6).
- [3] Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3.-4. Juni 1999; verfügbar unter: europarl.europa.eu/summits/kol2_de.htm (letzter Zugriff: 25.4.2013).
- [4] Europas Stimme in der Allianz: Als internationaler Akteur braucht die Union neue strategische Machtinstrumente, von Rudolf Scharping, in: Die Zeit, 18. Februar 1999.
- [5] Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der französischen Nationalversammlung, 30. November 1999, Paris; verfügbar unter: france-allemagne.fr/Rede-von-Bundeskanzler-Gerhard,403.html (letzter Zugriff: 25.4.2013).
- [6] Vom Staatenverbund zur Föderation: Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Rede von Joschka Fischer an der Humbolduniversität Berlin, 12. Mai 2000, Berlin; verfügbar unter: cvce.eu /viewer/-/content/4cd02fa7-d9d0-4cd2-91c9-2746a3297773/de (letzter Zugriff: 25.4.2013).
- [7] Erklärung des Deutsch-Französischen Verteidigungsund Sicherheitsrat, 77. Deutsch-Französischer Gipfel in Freiburg, 12. Juni 2001; verfügbar unter: france-allemagne.fr/77-Deutsch-Franzosischer-Gipfel- in,325.html (letzter Zugriff: 25.4.2013).