Die Institutionalisierung der ESVP und die Fortschreibung einer Gemeinsamen Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik im Rahmen der EU

Mit den Abschlusserklärungen des Europäischen Rats in Köln und Helsinki im Jahr 1999 wurde die St. Malo Initiative politisch umgesetzt. Im Gegensatz zur EVG, die Ergebnis eines langwierigen, intergouvernementalen Aushandlungsprozesses hin zu einem völkerrechtlichen Vertrag war, ist die ESVP Ergebnis der politischen Entscheidungen der Staatsund Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten. Diese Praxis politisch bindender Entscheidungen hat innerhalb von 12 Monaten zu einer verteidigungspolitischen Revolution in den EU-Institutionen geführt. Im Frühjahr 2000 betreten erstmals Militärvertreter die Flure der EU in Brüssel – für viele Diplomaten und Bürokraten ein ungewohntes Bild. Der Europäische Rat (als Institution) ist dabei zugleich ‚Akteur' und ‚Struktur': Akteur in dem Maße, wie gemeinsame Erklärungen beschlossen und verkündet werden, die politische Bindungskraft entfalten; Struktur in dem Maße, wie die formellen und informellen Regeln den Kommunikationsprozess strukturieren, durch den die nationalen Regierungen und ihre diplomatischen Vertreterinnen in der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung dieser Treffen an der Erarbeitung von Dokumenten mitwirken.

Nach der Erklärung von St. Malo verlagerte sich die Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik von bilateralen (britisch-französischen; deutsch-französischen; britischitalienischen) Initiativen auf die Gemeinschaftsebene. Als treibende Kraft trat zunehmend der Europäische Rat hervor, der auch die strikt intergouvernementale Ausrichtung der ESVP repräsentierte. Bereits in Wien im Dezember 1998 hatten die Staatsund Regierungschefs ihre Unterstützung signalisiert. Unter deutscher Präsidentschaft entwickelten sich die angestoßenen Überlegungen, eine von der NATO autonome sicherheitsund verteidigungspolitische Komponente in der EU zu schaffen, in der ersten Hälfte des Jahres 1999 zügig weiter. Die Bemühungen zum Aufbau ziviler und militärischer Fähigkeiten im Rahmen von Headline Goals und einer European Defence Capabilities Initiative wurden insbesondere von der britischen und italienischen Regierung intensiviert (Marchetti 2009: 200; zur EDCI: Howorth 2000). Vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Vorbehalte und der britischen Zurückhaltung gegenüber der Idee, eine EUropa-Armee zu bilden, heißt es in der Abschlusserklärung des Europäischen Rats in Helsinki:

„The European Council underlines its determination to develop an autonomous capacity to take decisions and, where NATO as a whole is not engaged, to launch and conduct EU-led military operations in response to international crises. This process will avoid unnecessary duplication and does not imply the creation of a European army. [...] With the enhancement and concertation of military and civilian crisis response tools, the Union will be able to resort to the whole range of instruments from diplomatic activity, humanitarian assistance and economic measures to civilian policing and military crisis management operations. NATO remains the foundation of the collective defence of its members, and will continue to have an important role in crisis management“.[1]

Dort, wo die NATO sich nicht engagiere, solle die EU in die Lage versetzt werden, über das gesamte Repertoire außenpolitischer Maßnahmen zu verfügen, wohlgemerkt ohne eine EuropaArmee zu schaffen oder in Konkurrenz zur NATO zu treten. Dieser Verweis auf die NATO und die Ablehnung supranational integrierter Streitkräfte wird in folgenden Communiqués ganz im Sinne einer Selbstvergewisserung und Selbstbindung wiederholt.

Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat sich der sicherheitspolitische Fokus der US-amerikanischen Regierung zunehmend verschoben. Spannungen zwischen den transatlantischen Partnern im Lichte der Vorbereitungen zum Krieg gegen den Irak haben in den Augen einiger Beobachter zu erheblichen politischen Verwerfungen im transatlantischen Bündnis geführt (Cox 2005; Habermas und Derrida 2003; Pouliot 2006). Die Rede vom „gespaltenen Westen“ (Habermas) und der „Friedensmacht Europa“ (Schröder) machte schnell die Runde. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) dieser Entwicklungen wurde die ESVP schrittweise ausgebaut, so dass der Europäische Rat im Dezember 2002 offiziell die Einsatzbereitschaft erklären konnte. Am 1. Januar 2003 übernahm die EU ihre erste Polizeimission in Bosnien-Herzegowina, gefolgt von der Operation Concordia in Mazedonien. Mit einer militärischen Mission zur Absicherung der Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo im Sommer 2003 – Codename Artemis – wurde erstmals ein Einsatz der EU ohne Unterstützung der NATO durchgeführt (Schlag 2012). Weitere ESVP-Missionen folgten, deren Aufgabe mitunter die Ausbildung von Polizisten, die Reform des Sicherheitssektors und die Absicherung von politischen Transformationsphasen in solchen Ländern war, die durch gewaltsame Konflikte destabilisiert worden waren.

Auf dem Europäischen Rat im Dezember 2003 in Brüssel wurde feierlich – wenn auch überschattet vom Scheitern des Verfassungsvertrages – die erste Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) verkündet, die Javier Solana federführend erarbeitet hatte. [2] Die ESS galt vielen Kommentatoren als Ausdruck einer geteilten Bedrohungswahrnehmung und Beginn einer europäischen Sicherheitskultur (Berenskoetter 2005; Biscop 2005; Biscop/Andersson 2008; Gariup 2009; Meyer 2005). Bereits im Titel der ESS – „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ – zeigt sich ein globaler Anspruch Europas, sicherheitspolitisch eine gewichtiger Rolle spielen zu wollen. Die ersten Sequenzen entfalten ein historisches Narrativ, das die EU als Friedensgarant einer europäischen Ordnung entwirft. „Zwangsläufig ein globaler Akteur“, gemessen an der wirtschaftlichen Kraft und demographischen Größe der EU, müsse Europa bereit sein, „Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mit zu tragen“, heißt es weiter. Die „Hauptbedrohungen“ werden im Bereich des transnational agierenden Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionaler Konflikte, Staatszerfall und organisierter Kriminalität lokalisiert. Allein diese Auflistung bietet ein anschauliches Beispiel für sogenannte neue Gefahren und Risiken, die kaum noch etwas mit der Omnipräsenz einer militärisch-nuklearen Bedrohung zwischen den Supermächten zu Zeiten des Kalten Krieges gemein haben. Diese neuen Bedrohungen seien jedoch „weniger sichtbar und weniger vorhersehbar“ als „größere Angriffe gegen Mitgliedstaaten“, die als unwahrscheinlich eingeschätzt werden. Drehund Angelpunkt der strategischen Ausrichtung der EU soll ein „wirksamer Multilateralismus“ sein, der eine aktivere, handlungsfähigere und kohärentere Außenpolitik der EU erfordere.

Die Liste an Wegmarken zur fortlaufenden Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der ESVP ließe sich problemlos weiterführen: die Diskussionen über ein eigenes Hauptquartier mit Planungszelle in Tervuren, die Probleme bei der Beschaffung des Transportflugzeuges A400M, die Bildung einer Europäischen Rüstungsagentur, die Entwicklung des battle-groups Konzeptes, die Ernennung einer EU-Außenministerin, die Entstehung des European External Action Service usw.

  • [1] Presidency conclusions Part II: Common European policy on security and defence, European Council, Helsinki, 10-11 December 1999; abgedruckt in: Chaillot Papers 47, Dokument 19.
  • [2] Ein Sicheres Europa in einer besseren Welt, Europäische Sicherheitsstrategie, 12. Dezember 2003, Brüssel; verfügbar unter consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf (letzter Zugriff: 25.4.2013).
 
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