Mit einer Stimme sprechen

Obgleich die Forderung nach einer weitergehenden politischen Konstitutionalisierung Europas in den Diskursen abwesend ist, findet sich die Forderung, ‚mit einer Stimme zu sprechen', bei allen Beteiligten. In der Einheit wird Stärke und Einfluss gesehen, die Mehrstimmigkeit der EU, d.h. in erster Linie der Regierungen der Mitgliedsstaaten, erscheint als Hindernis für eine globale Rolle der EU. Dieser Dualismus zwischen dem ‚Ganzen und seinen Teilen' ist nicht überraschend, sondern ein prägendes Merkmal der europäischen Integration.

Die Forderung nach Einstimmigkeit der EU wirft zugleich die Souveränitätsfrage auf, die in der ESVP-Diskussion kaum öffentlich zu Tage tritt. Denn ‚mit einer Stimme zu sprechen' impliziert zumindest einen symbolischen Souverän, der nicht nur fähig, sondern auch authorisiert ist, im Namen eines Kollektivs zu sprechen. Innerhalb der komplexen Entscheidungsstrukturen der EU war und ist dies eine besonders wichtige Frage. Mit der ESVP sichern sich die nationalen Regierungen im Rahmen des Europäischen Rats und Rats Entscheidungskompetenzen in sicherheitsund verteidigungspolitischen Belangen. Souverän erscheinen hier in erster Linie die Regierungen, die sich zwar wechselseitig binden, schlussendlich aber die Gewalt über Entscheidungen behalten.

Zu Tage tritt hier ein Diskurs, den Richard Ashley einst als „anarchy problematique“ bezeichnete. In den IB, so Ashley in einem Aufsatz Ende der 1980er Jahre, bestehe Konsens, das internationale System als anarchisch zu beschreiben und folglich der Souveränität eine normative Vorrangstellung einzuräumen. Anarchie wird als Problem und als Abweichung verstanden, Souveränität als „originary voice, a foundational source of truth and meaning“ artikuliert (Ashley 1988: 230). Relevant ist diese hierarchisierende Unterscheidung, weil Souveränität als

‚rational', Anarchie hingegen als ‚gefährlich' konstruiert wird. Schließlich bedeutet dies, dass Anarchie überwunden werden müsse, um Ordnung zu schaffen. Diese ‚heroische Geste', wie Ashley es nennt, offenbart sich auch in der politischen Forderung, dass die EU mit einer Stimme sprechen müsse. [1] Polyphonie stellt sich hier als ein Problem dar, das zur Handlungsunfähigkeit und geringen Macht der EU in den internationalen Beziehungen führe. Die politische Schlussfolgerung der Beteiligten ist demnach, dass nur noch die EU als globaler Akteur eine gewichtige Rolle spielen kann, dafür aber ‚mit einer Stimme sprechen müsse', wie das eben auch andere Staaten tun.

  • [1] „In modern discourses of politics, importantly, only those contributions that replicate this interpretative attitude and invoke a sovereign voice as an absolute ground can be taken seriously; other contributions, less certain of their foundations and more ambigious therefore, are themselves made objects of this heroic practice“ (Ashley 1988: 230). Diese 'heroische Geste' zeigt sich auch im politischen Diskurs, die den souveränen Staat als zentrales Subjekt internationaler Politik konstruiert, so Ashley.
 
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