... und deren praktischer Vollzug

Dass Praktiken integrierend wirken, zeigt sich erneut an der ESVP-Diskussion. Im Gegensatz zur EVG-Debatte ist die EU-Politik der Beteiligten durch regelmäßige Treffen, einen acquis communitaire und acquis politique geprägt, d.h. durch gemeinsame Regeln und Normen, die bereits eine in hohem Maße integrierte Gemeinschaft konstituieren. Zwar treffen hier weiterhin Regierungsvertreter politisch verbindliche Entscheidungen, ihre Praktiken weisen jedoch über das rein ‚diplomatische Geschäft' hinaus (Formalisierung). Die Formalisierung der Treffen des Europäischen Rats sind Ausdruck von governance-Strukturen, die zur Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen beitragen (politische Verbindlichkeit). Man stelle sich nur vor, dass ein Treffen des Europäischen Rats ohne eine gemeinsame Schlussfolgerung endet.

An der ESVP-Diskussion zeigt sich, wie in diesem institutionalisierten Setting eine Initiative ihren Weg hin zur Vertragsreform nimmt. Der Verbindlichkeitsgrad der politischen Entscheidungen steigert sich schrittweise und wird schließlich durch eine Vetragsreform formalisiert. Diese politische Bindungskraft, welche die ESVP-Debatte entfaltet, verweist auf eine gefestigte Praxisgemeinschaft, die bereits auf etablierte Regeln und Normen zurückgreifen kann. Im Folgenden sollen drei Sets an Praktiken näher beleuchtet werden, die zur Herstellung und Aktualisierung dieser Gemeinschaft beitragen: (1) fordern und ablehnen, (2) sich regelmäßig treffen und gemeinsam(e) Text ausarbeiten, (3) beschließen, berichten und wiederholen. Zugleich lassen sich Spannungen offen legen, die verdeutlichen, dass auch die auf den ersten Blick gefestigte Europäische Gemeinschaft stets aufs Neue durch die Mobilisierung von Diskursen und deren praktischen Vollzug hergestellt werden muss.

Fordern und ablehnen

Am Beginn der ESVP-Diskussion steht eine bilaterale Initiative: Durch die britische Zustimmung zu einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU-Mitglieder werden Verhandlungen möglich. Premier Blair und Präsident Chirac führen diese Debatte mit einer klaren Forderung an: Die EU „must have the capacity for autonomous action“. Solch eine Forderung unterscheitet sich graduell von der EVG-Initiative Plevens in dem Maße, wie hier eine Notwendigkeit artikuliert wird, die nicht mehr in Frage zu stellen ist. Etwas zu ‚müssen' bedeutet ja gerade, keine Wahl zu haben, ob man nun möchte oder nicht (Sachzwang).

Forderungen zu stellen impliziert jedoch auch die Möglichkeit der Ablehnung, d.h. des Infragestellens der Notwendigkeit von (militärischen) Fähigkeiten der EU für autonome Aktionen. Die US-amerikanische Regierung bringt solch eine Skepsis zum Ausdruck, wenn Außenministerin Albright von „no duplication“, „no discrimination“ und „no decoupling“ spricht. Auch auf Seiten der EU-Mitglieder wird der Aufbau einer EU-Armee abgelehnt und nach alternativen Organisationsformen gesucht (siehe battle-group Konzept).

Dieses Wechselspiel aus ‚fordern und ablehnen' ist kennzeichnend für politische Prozesse: agenda-setting, verhandeln, Vorschläge und Gegenvorschläge bis zur Herbeiführung von Entscheidungen, deren Begründung auf der artikulierten Notwendigkeit militärischer Fähigkeiten basiert, die als Vorraussetzung für eine globale Rolle der EU mobilisiert werden (Kommunikationsund Entscheidungsprozess).

 
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