Die Kultur der ESVP: Diskursordnung(en) und Handlungsrepertoire(s)
Bezeichnend für die ESVP-Diskussion sind zwei Umstände: Zum einen ermöglichte erst die Neujustierung der britischen Außenpolitik die Debatte, eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik mit entsprechenden militärischen Ressourcen innerhalb der EU aufzubauen. Zum anderen zeigt sich, dass diese Debatte innerhalb der bestehenden governance-Strukturen des Europäischen Rats stattfindet und auf einen formalisierten Kommunikationsund Entscheidungsprozess zurückgreifen kann. Das Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken erfolgt hier nicht mehr in einem rein intergouvernementalen, diplomatischen Setting, sondern in einer etablierten Praxisgemeinschaft.
Diese Praxisgemeinschaft zeichnet sich durch politische Verbindlichkeit und Routinen aus, die sowohl eine Verschriftlichung von gemeinsamen Positionen als auch einen kontinuierlichen Kommunikationsund Entscheidungsprozess beinhalten. Unilaterale Aktionen, gar Drohungen, Zwang oder öffentlicher Widerspruch werden nicht vollzogen, scheinen in der gefestigten Praxisgemeinschaft der EU als nicht angemessen zu gelten. Die Formalisierung der Gipfeltreffen erschwert zudem die Anwendung dieser Praktiken: Regelmäßige Treffen und damit verbunden der Austausch über Positionen schaffen Vertrauen; formelle und informelle Regeln legen einen zunehmend ritualisierten Ablauf dieser Zusammenkünfte fest.
Während diese Praktiken zur Integration und Stabilität der Gruppe beitragen, so offenbaren die mobilisierten Diskurse eine größere Ambivalenz. Zwar teilen alle Beteiligten die Einschätzung, dass die EU bereits eine globale Rolle spiele und die Forderung, dass sie mehr militärische Fähigkeiten erlangen müsse, um dies besser tun zu können; dennoch herrschen Differenzen bei der Frage, wie und wo eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik institutionalisiert werden und welche primären Aufgaben die ESVP beinhalten soll. Im Mittelpunkt steht dabei die unterschiedliche Akzentuierung rüstungspolitischer Aspekte einerseits und des Ausbaus des zivilen Krisenmanagements andererseits. Das Verhältnis zur NATO und damit verbunden zu den USA scheint hier von besonderer Bedeutung zu sein. Erneut zeigt sich, dass eine europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik gegenüber der transatlantischen Allianz gerechtfertigt werden muss – und dabei die EU-Mitglieder den Vorwurf zu entkräften haben, Gleichgewichtsoder gar Gegenmachtpolitik zu betreiben. Die (Ein-) Bindung eines wiedervereinten Deutschland sowie die gewaltsamen Konflikte in Südosteuropa spielen eine eher implizite Rolle. Somit ließe sich der vorläufige Schluss ziehen, dass die ESVP symbolischer Ausdruck einer europäischen Diskursund Praxisgemeinschaft ist, die zwar in enger Verbindung zur NATO und zu den USA steht, aber auf eigenständige Entscheidungsprozesse blicken kann.
Zusammenfassung und Ausblick
Am Anfang der ESVP stand eine gemeinsame Erklärung von Premier Blair und Präsident Chirac, deren Folgen wohl die wenigsten Politiker und Beobachterinnen einzuschätzen wussten. Die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik ist nicht nur Bestandteil des gemeinsamen Vertragsrechts, sondern kann auf 14 abgeschlossene und 16 laufende zivile und militärische Einsätze blicken (Stand: Juli 2014). Regelmäßige Berichte, u.a. der Präsidentschaft, des Hohen Repräsentanten und des Europäischen Parlaments, informieren über ‚Fortschritte', die erzielt wurden; [1] regelmäßige Kommentare in der Zeitung und in think tanks beklagen jedoch den Stillstand der ESVP und die Handlungsunwilligkeit der EU, beispielsweise in der SyrienKrise.
Während die ESVP mit ihren zivilen (und militärischen) Einsätzen durchaus den Erfolg des Faktischen für sich beanspruchen kann, so hat der Fall Libyen eher den Verdacht genährt, dass eine ‚gemeinsame' Sicherheitsund Verteidigungspolitik noch in weiter Ferne liegt. Im Rückblick macht es den Anschein, als ob sich die Dynamik der ESVP just in dem Moment verflüchtigt hat, in dem der Verfassungsvertrag und damit verbunden eine grundlegende politische Neujustierung des Integrationsprojektes gescheitert ist. Denn wie die EVG ist die ESVP durchaus als ein Projekt zu verstehen, das die politische Einigung Europas hin zu einem ‚staatenbündigen oder bundesstaatlichen Gemeinwesen' vorantreiben könnte. Diese Vision der ‚Vereinigten Staaten von Europa' scheint jedoch bis auf Weiteres der Vergangenheit anzugehören.
- [1] Z. B. Bericht über die Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie: Sicherheit schaffen in einer Welt im Wandel, Brüssel, den 11. Dezember 2008, S407/08; verfügbar unter: consilium.europa.eu/ueDocs/ cms_Data/docs/pressdata/DE/reports/104634.pdf (letzter Zugriff: 25.4.2013).