Die Kultur EUropäischer Außenpolitik und die Herausbildung der EU als globaler Akteur: Die EVG und ESVP im Vergleich
Die Analyse in Kapitel 5 und Kapitel 6 hat gezeigt, dass sich in der EVG und ESVP sehr unterschiedliche (sicherheits-) politische Projekte materialisieren: Während die Regierungen mit der EVG eine politische Vergemeinschaftung der westeuropäischen Staaten mit dem Ziel einer neuen politischen Ordnung Europas verfolgten, erscheint die ESVP-Debatte im Wesentlichen von der Überzeugung der EU-Mitglieder getrieben zu sein, (nur noch) gemeinsam international eine gewichtige(re) Rolle spielen zu können. Diesen Zielsetzungen – dort: politische Integration Europas, hier: Internationalisierung der EU – liegen zwei unterschiedliche politische Ordnungsmodelle zu Grunde. Die EVG, zusammen mit der EPG, sollte in der Tat zur Konstitutionalisierung eines (west-) europäischen Bundesstaates oder Staatenbundes beitragen, der jenseits der Nationalstaaten ein neues Herrschaftszentrum geschaffen hätte. Hiermit wäre eine Transformation des europäischen Staatensystems verbunden gewesen, die in der supranationalen Intgeration von Streitkräften ihren Anfang genommen hätte. Das Scheitern dieses Projektes, dessen Ausgangspunkt die Forderung nach einer deutschen Wiederbewaffnung war, verweist auf die Persistenz eines etatistischen Diskurses, der Macht mit staatlicher Souveränität gleichgesetzt.
Souveränität zu teilen oder gar abzugeben, scheint unter einer besonderen Begründungsverpflichtung zu stehen. Biersteker und Weber (1996: 1f.), beispielsweise, haben darauf hingewiesen, dass Souveränität eine soziale Konstruktion und demnach die Äquivalenz zwischen Staat = Souveränität zwar institutionell sedimentiert, historisch aber kontingent ist.
Die ESVP hingegen ist symbolischer Ausdruck eines Anerkennungsund Machtdiskurses, in dem und durch den die beteiligten Regierungen international Einfluss gewinnen bzw. erhalten möchten. Zwar ist die ESVP keineswegs als Gegenmachtbildung zur NATO oder den USA zu verstehen. Dagegen spricht die enge inter-institutionelle Abstimmung im transatlantischen Bündnis. Dennoch erscheint die ESVP im britischen, französischen und deutschen (Regierungs-) Diskurs als ein Projekt, das der EU mehr Handlungsfähigkeit verschaffen soll, weil die Fähigkeit, militärisch handeln zu können, eben zum Selbstverständnis und zur Anerkennung als politisch bedeutsamer Akteur dazu gehört. Im Gegensatz zur EVG ist mit der ESVP kein politisches Integrationsziel, sondern vielmehr die Externalisierung von gemeinsamen Normen und Werten wie etwa Menschenrechtsschutz und Demokratisierung verbunden. Dieser Unterschied zwischen der EVG und ESVP drückt sich auch in der politischen Ordnungsform aus: einerseits supranationale Integration, andererseits intergouvernementale Koordinierung. Mit diesem Anerkennungsdiskurs der ESVP geht eine gewisse Aktualisierung der Äquivalenz von Staat = Souveränität einher. Akteur ist nur, wer militärisch handlungsfähig ist, d.h. über Ansätze eines Gewaltmonopols nach innen und nach außen verfügt. Zwar wird in der politischen Diskussion immer wieder darauf hingewiesen, dass die EU gerade nicht zum Superstaat werde bzw. werden dürfe. Die grundlegende Äquivalenz zwischen Souveränität = Gewaltmonopol wird jedoch implizit hergestellt. So wie die Verbindung zwischen Staatlichkeit und Souveränität historisch kontingent ist, darf man auch die Vorstellung eines Gewaltmonopols als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit nicht als gegeben verstehen.
Auch der Gegenstand von Sicherheitspolitik hat sich im Laufe der Zeit verändert (allgemein: Brock 2004; Buzan/de Wilde/Waever 1998; Daase 2010). Während die Gründung der EVG der Friedenssicherung in Europa und der Steigerung der westeuropäischen Verteidigungsfähigkeit gegenüber der UdSSR dienen sollte, werden globales Krisenmanagement und Konfliktprävention als zentrale Aufgabe der ESVP verstanden. Exemplarisch lässt sich hier ein territorial und substantiell erweiterter Sicherheitsbegriff erkennen: von der Verteidigung des ‚freien Europas' zu einem ‚sicheren Europa in einer besseren Welt' und von der militärischen Verteidigung zu Auslandsmissionen mit zivilen und militärischen Mitteln. Solch ein erweiterter Sicherheitsbegriff steht aber weiterhin in Verbindung zur klassichen Vorstellung, dass die Gewährleistung von Sicherheit die Verfügbarkeit über militärische Mittel erfordere. Zwar stehen die EVG und ESVP sinnbildlich für die Europäisierung und Internationalisierung von Sicherheitspolitik. Etatistische Aufgaben der Sicherung und Verteidigung werden (in unterschiedlichem Maße) an nicht-staatliche Organe formell und informell übertragen. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive stellt sich demnach auch das staatliche Gewaltmonopol als eine Fiktion dar, das sich über Jahrhunderte hinweg herausgebildet hat und stets aufs Neue durch Diskurse und Praktiken hergestellt wird. Die Vergemeinschaftung von Sicherheitspolitik könnte somit in der Tat auf eine neue politische Ordnung verweisen, die eher einem komplexen Netzwerk als einer klaren Hierarchie von Institutionen und Organen gleicht. Vergemeinschaftung bedeutet aber nicht zwangsläufig eine supranationale Integration, sondern kann auch im Rahmen intergouvernementaler Kooperation, wie dies in der ESVP der Fall ist, seinen Ausdruck finden (Ohrgaard 1997). Auch hier wird deutlich, wie wirkmächtig die Äquivalenz zwischen Bereitstellung von Sicherheit = Legitimation von politischer Herrschaft ist. Zwar ist der Herrschaftsbegriff im Zusammenhang mit der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik problematisch, deutlich wird hier aber dennoch die enge Koppelung von Sicherheitspolitik und der Begründung politischer Ordnungen. Aufgabe des Staates oder eines kollektiven Akteurs sei, Sicherheit zu gewähren, so lautet ein gängiges Begründugnsmuster. Während staatliche Ordnungen dies primär in einer hierarchischen Form durch das Gewaltmonopol garantieren, deutet sich im Rahmen der ESVP eine heterarchische Form mit überlappenden Gewaltpolen an.
In diesem Sinne verändert sich auch der institutionelle Kontext, in dem Akteure außenpolitisch agieren. Während die EVG in einem intergouvernementalen Prozess verhandelt wurde, ist die ESVP Ausdruck eines hoch formalisierten, fast schon symbolischen Rituals im Rahmen der Zusammenkünfte des Europäischen Rats. Außenpolitik als Institution hat sich im Laufe der europäischen Integration verändert – zwar nicht in dem Maße, dass ein zum Nationalstaat vergleichbares Institutionengefüge auf die EUropäische Ebene übertagen wurde. Die kulturelle Praxis der Entscheidungsfindung, die sich in den gemeinsam erarbeiteten Texten ausdrückt, sollte aber nicht unterschätzt werden, da sie zur Herausbildung, Erneuerung und Veränderung einer Diskursund Praxisgemeinschaft beiträgt. Formalisierte Regeln binden die Beteiligten, begrenzen ihre Möglichkeiten des Widerspruchs und der Opposition. Hier deutet sich bereits eine weitere Äquivalenz zwischen staatlichen Repräsentanten = Diplomaten an. Während die EVG Ergebnis von Verhandlungen zwischen Diplomaten und militärischen Repräsentanten der beteiligten Staaten war, gründen die ESVP-Verhandlungen bereits auf transnationalen Arbeitsprozessen. Diplomatie findet immer weniger ausschließlich in Berlin, Paris und London, sondern zwischen Diplomaten aus unterschiedlichen EU-Mitgliedsländern in Brüssel statt. Mit dem neu eingerichtetet Europäischen Diplomatischen Dienst (European External Action Service) wird sich zeigen, wie der kontinuierliche Gestaltwandel von Außenpolitik womöglich voranschreitet, das Diplomatiemonopol des Staates symbolisch in Frage stellt und bereits heute ein „quasi-supranational diplomatic corps“ bildet (Adler-Nissen 2013: 8). [1]
Die Bedeutung der regelmäßigen Treffen von Politikern und Diplomaten zeigt sich insbesondere aus einer mikrosoziologischen Perspektive. Ihre gesellschaftliche und politische Relevanz entfalten Diskurse und Praktiken nämlich dadurch, dass sie Gruppen bilden, Gemeinschaften stiften und helfen, einen esprit de corps zu kreieren. Entscheidend ist dabei, dass solche Gruppen und Gemeinschaften immer wieder erneuert, d.h. praktiziert werden müssen. Eine „community of practices“, so schreiben Adler und Pouliot, „is a configuration of a domain of knowledge that constitutes likemindedness“ (2012: 17). Aus der Lernsoziologie entlehnt (Wenger 1998) verweist dieses Konzept darauf, dass nicht geteilte Werte, sondern das Zusammen-Handeln und die alltäglichen Praktiken zur Gemeinschaftsbildung beitragen. Eine Praxisgemeinschaft bildet sich durch die wiederholte, zuweilen routinisierte Aushandlung von geteilten Bedeutungsmustern basierend auf Lernprozessen und Vertrauensbildung. Vor dem Hintergrund der gegenstandsbezogenen Rekonstruktion in Kapitel 5 und Kapitel 6 erscheint es naheliegend, von einer Diskursund Praxisgemeinschaft zu sprechen, da Praktiken ohne eine geteilte symbolische Bedeutung kaum eine nachhaltige Wirkung entfalten können, Diskurse jedoch umgekehrt wirkungslos bleiben, wenn sie nicht in und durch Praktiken mobilisiert und aktualisiert werden. Kurzum: Durch Praktiken mobilisieren, vollziehen und aktualisieren Akteure Diskurse; symbolische Ordnungen ermöglichen und begrenzen sinnvolle Handlungen und re-konfigurieren Handlungsrepertoires. So wie Bedeutungen gebraucht werden, müssen auch Handlungen verstanden werden. Erst dieses Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken konstituiert kollektive Akteure.
Am Beispiel der EVG lässt sich die Genese solch einer Diskursund Praxisgemeinschaft anschaulich nachvollziehen: Die regelmäßigen Treffen in Paris sowie die persönlichen Kontakte zwischen den Vertretern ermöglichen einen politischen Austausch nur wenige Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges, sogar zwischen deutschen und französischen Militärvertretern (die zuweilen eine längere Bekanntschaft verbindet). Der Aushandlungsprozess geteilter Bedeutungsmuster wird zunehmend von den NATO-Treffen sowie den Petersberg-Gesprächen zwischen den Alliierten und der westdeutschen Regierung entkoppelt und exklusiv im Rahmen der EVG-Treffen verhandelt. Dennoch nehmen Vertreter der nicht-beteiligten NATO-Mitglieder als Beobachter an den Verhandlungsrunden teil – die USA und Kanada sind Teil dieser Gemeinschaft. Der politische Raum der Verhandlungen verweist auf die Bedeutsamkeit diplomatischer Routinen, etwa in Zweiergesprächen, in diplomatischen Treffen ebenso wie in der zeremoniellen Unterzeichnung des Vertragstextes. In den mobilisierten Diskursen zeichnet sich im Verhandlungsverlauf zunehmend eine Konvergenz dahingehend ab, dass alle Beteiligten in der supranationalen Integration der Streitkräfte die beste Garantie für Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung sehen. Zwar verbinden die Regierungen mit der EVG je spezifische Bedeutungen, wie in Kapitel 5 erörtert, aber keiner stellt die Notwendigkeit einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in Frage.
Auch im Rahmen der Diskussion über die ESVP zeigt sich ein Aushandlungsprozess geteilter Bedeutungsmuster, der eine gemeinsame Positionierung des Europäischen Rats als autorisiertes Entscheidungsgremium der Gemeinschaft ermöglicht. Gruppenbildend sind hier jedoch die in hohem Grad formalisierten Treffen des Europäischen Rats, die mit einer gemeinsamen Erklärung abschließen. Diese Erklärungen, in denen die Akteure als Gemeinschaft mit einer Stimme sprechen (‚we', ‚wir'), sind symbolischer Ausdruck einer formalisierten Diskursund Praxisgemeinschaft. Lernprozesse zeigen sich insbesondere im Vorfeld der Verhandlungen an der Veränderung der britischen Positionierung, die eine Verschiebung der Diskussionen von der NATO (ESVI) zur EU (ESVP) vorbereitet. Diese Grenzziehungen des Zusammen-Handelns sind interessant, da nicht-EU Mitglieder nun von den Verhandlungen über die ESVP ausgeschlossen sind, EU-Vertreterinnen mit NATO-Vertreterinnen über Kooperationsmöglichkeiten verhandeln und Differenzen zwischen den europäischen Staaten einerseits und mit den USA andererseits öffentlich artikuliert werden. Deutlich wird somit auch, dass Gemeinschaftsbildung eben nicht auf die Konvergenz von Werten und Identitäten verkürzt werden sollte, sondern stets auf die Mobilisierung von Diskursen und deren praktischen Vollzug hinweist.
An der EVGund ESVP-Diskussion lassen sich somit auch Spannungen, Kontingenzen und Machtbeziehungen aufzeigen, die gerade eine bedeutungsorientierter Kulturbegriff erfassen kann. Die Gründung der EVG war aus Sicht der beteiligten Akteure keineswegs unausweichlich, sondern eine mögliche Antwort auf die Frage, wie die Verteidigungsfähigkeit Westeuropas gesteigert werden könnte. Die deutsche Wiederbewaffnung galt insbesondere der USamerikanischen Regierung als eine Voraussetzung ihrer dauerhaften sicherheitspolitischen Präsenz in Europa. Alternative Möglichkeiten wie etwa eine Erhöhung der Alliierten-Truppen verschwanden suksessive aus der Diskussion, wurden in dem Maße unsichtbar, wie Akteure auf diese Option nicht mehr verwiesen. Mit der Entscheidung für den Aufbau westdeutscher Truppen stellte sich die nächste Entscheidung, nämlich wie das militätische Potential Deutschlands eingebunden werden könne. Auch auf diese Frage gab es mehrere mögliche Antworten, insbesondere die Forderung nach einer Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO. Die Mobilisierung eines Diskurses, der in der politischen Integration Europas die beste Form der Friedenssicherung sah, dessen Aktualisierung sich auch in Praktiken des wechselseitig Konsultierens und Veträge schließens zeigt, machte diese Alternative jedoch unsichtbar. Die institutionelle (Ein-) Bindung Westdeutschlands in europäische Strukturen galt als Friedensund Sicherheitsgarantie, sowohl vor dem Hintergrund befürchteter Hegemonialbestrebungen Deutschlands als auch wahrgenommener (politischer und territorialer) Expansionsbestrebungen der UdSSR. Die Sicherung eines ‚freien' und ‚antikommunistischen' Europas stand mit unterschiedlicher Akzentsetzung bei den Beteiligten im Vordergrund und ermöglichte die ersten Schritte zur europäischen Integration als auch die Verpflechtung der US-amerikanischen Regierung in eine euro-atlantische Sicherheitspolitik. Im Laufe des Verhandlungsprozesses zeichnete sich bereits im Umgang der Beteiligten eine Gleichberechtigung der Bundesrepublik ab, die eine NATO-Mitgliedschaft symbolisch vorbereitete, wie Kanzler Adenauer dies vor dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck brachte. Mit dem Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung verschiebt sich der Diskurs hin zur transaltlantischen Allianz, die deutsche Mitgliedschaft wird nun möglich. Die mobilisierten Diskurse und Praktiken hatten dafür bereits den symbolischen Grundstein gelegt.
Auch in der ESVP-Diskussion offenbart sich die Kontingenz politischer Entscheidungen. Dass die EU über eigenständige militärische Fähigkeiten verfügen müsse, war und ist umstritten. Die britische und US-amerikanische Regierung lehnten diese Forderung jahrelang ab und forcierten stattdessen die ESVI als ein Projekt zur Sträkung des ‚europäischen Pfeilers' innerhalb der NATO. Der vielfach konstatierte Wandel in der britischen Sicherheitspolitik ermöglichte die ESVP, garantierte jedoch nicht ihren Erfolg. Erst durch die Zusammenarbeit mit der französischen Regierung und die deutsche Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 konnte diese politische Idee durch den praktischen Vollzug von geteilten Diskursen institutionell formalisiert werden. Ist die ESVI als Alternative zur ESVP zunehmend in den Hintergrund getreten, so erscheint auch die Forderung, dass die EU ‚mit einer Stimme sprechen' und ‚international mehr Verantwortung übernehmen' müsse, alles andere als selbstverständlich. Dieser Anspruch erwächst vielmehr aus einem Anerkennungsund Machtdiskurs, der alternative Möglichkeiten, ‚mehr Handlungsfähigkeit' zu erreichen, unsichtbar macht. Dazu zählt u.a. die Supranationalisierung der GASP, die Stärkung ziviler und völkerrechtlicher Instrumente – d.h. all jene Optionen, die Solana im einleitenden Zitat sprichwörtlich mit der ‚Macht des Rechts' umschreibt. Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ist zwar weiterhin ein zentrales Projekt EUropäischer Außenpolitik; der Wunsch, über militärische Kapazitäten zu verfügen, die als notwendig angesehen werden, verdeutlicht aber die Persistenz machtpolitischer Diskurse und Praktiken.
Was sagt uns diese Kultur EUropäischer Außenpolitik nun über die Herausbildung der EU als Sicherheitsakteur mit globalem Anspruch? Drei Aspekte erscheinen mir diskussionswürdig. Erstens zeigt sich im Vergleich der EVG und ESVP eine sich verändernde Rolle der USA im europäischen Integrationsprozess und im Verhältnis zu EUropa. Während die USamerikanische Regierung Anfang der 1950er Jahre in vielerlei Hinsicht Stichwortgeber der verteidigungspolitischen Integration Westeuropas war, sind die Beziehungen seit Ende der 1990er Jahre (zunehmend) durch Spannungen geprägt. Vieles, was früher selbstverständlich erschien, wird heute öffentlich diskutiert und kritisiert. Zweitens wird deutlich, dass Normen und Macht sowohl als Instrumente als auch Ziele politischen Handelns zusammen gehören. Dort, wo Bedeutungen mobilisiert werden, um Regeln, Normen und Institutionen zu schaffen, zeigt sich auch Macht in ihrer vielfältigen Art und Weise. Drittens stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Europa und den europäischen Nationalstaaten verändert, ob die EU in der Tat eine eigenständige(re) Rolle jenseits ihrer Mitglieder spielt und spielen kann. Integration und Internationalisierung einerseits und die Persistenz des Nationalstaates und machtpolitischer Diskurse andererseits legen ein Spannungsfeld offen, das die Herausbildung der EU als globaler Akteur bis heute prägt. Deutlich wird somit, dass Kultur und Macht nicht Gegensätze darstellen – weder als Untersuchungsgegenstand noch als theoretische Perspektive. Schließlich lässt sich zeigen, wie durch Diskurse und Praktiken zunächst opakee Macht sichtbar wird: als strukturelle und produktive Macht, die symbolische Grenzen zwischen ‚innen | außen' zieht und Gemeinschaften konstituiert, die unter den Bedingungen reziproker Kontingenz gemeinsam handeln (wollen).
- [1] Adler-Nissen weist darauf hin, dass sowohl die materielle als auch die institutionelle Komponente einer EUropäischen Diplomatie von Kritikern überschätzt wird. In Anlehnung an Bourdieu seien vielmehr die symbolischen Ressourcen etnscheidend: „The EEAS questions the state as 'a central bank for symbolic credit', meaning its monopoly on symbolic power. This explains its controversial nature and the counter-strategies adopted by national foreign services and domestic constituencies to delegitimise the EEAS“ (Adler-Nissen 2013: 3).