EUropa und der Westen: Frieden, Freiheit, Sicherheit?

Die USA gelten bis heute in vielerlei Hinsicht als ‚europäische Macht'. Im Kampf gegen HitlerDeutschland, mit der Gründung und dem Fortbestand der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges sowie in jüngsten Versuchen zur Etablierung einer euro-atlantischen Freihandelszone haben wechselnde US-amerikanische Regierungen immer wieder eine enge Koordination und Kooperation mit den europäischen Staaten gesucht – und europäische Staaten in den USA einen priveligierten und naheliegenden Partner gesehen. Trotz zahlreicher Konflikte kam diese enge normative Verbindung zwischen den ‚USA' und ‚Europa' immer wieder in der politischen Semantik des ‚Westens' zum Ausdruck (Hellmann et al. 2014; Katzenstein 2009).

Betrachtet man die frühen 1950er Jahre, so erscheinen die USA in der Tat als eine ‚europäische Macht', die politisch eingebunden wurde und Stichwortgeber für eine Europa-Armee war. Zwar haben Historiker wie etwa Larance S. Kaplan (1999) darauf hingewiesen, dass die Gründung der NATO vielmehr einem „entanglement“ der USA gleicht. Dennoch wird in den EVG-Diskussionen deutlich, wie sehr die US-amerikanische Regierung unter Truman den wirtschaftlichen Aufbau und die politische Neuordnung Westeuropas zum Ziel hatte. Jackson (2006) begründet dies in erster Linie mit der Wirkmächtigkeit des Konzepts einer „Western civilization“, das nach dem Ende des II. Weltkrieges auf US-amerikanischer Seite als Begründung zur Wiedereinbindung der Bundesrepublik Deutschland in den ‚Westen', d.h. in die Gemeinschaft der freien, demokratischen und anti-kommunistischen Staaten gebraucht wird. Im Lichte der EVG-Debatte zeigt sich, dass diese Sicherung eines ‚freien' Westeuropas und der Erhalt des status quo ein wichtiges Anliegen der US-Amerikaner war, der ‚Westen' als Begründungsformel jedoch eher selten explizit gebraucht wird. Mit der Regelung, dass eine EuropaArmee dem SACEUR unterstellt und demnach in die NATO eingebunden werden würde, waren die USA selbst Teil des europäischen Integrationsprojekts. In diesem Sinne war der ‚Westen' symbolischer Teil ‚Europas' und vice versa. Deutlich wird hier, dass Kultur und Macht keine Gegensätze, sondern wechselseitig aufeinander bezogen sind. Durch das Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken offenbart sich die produktive Seite der Macht, in dem eine Gemeinschaft gestiftet wird, die integrativ nach innen wirkt. Indem Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung im Rahmen der EVG zueinander in Beziehung gesetzt werden, erscheint eine Destabilisierung des ‚Westens' und eine (fortdauernde) Fragmentierung (West-) Europas als das Außen, das verhindert werden muss.

In der ESVP-Diskussion hingegen zeigt sich ein wesentlich ambivalenteres, wenn nicht gar gespaltenes Verhältnis zwischen den ‚USA' und ‚Europa'. Zwar unterstützte die US-amerikanische Regierung ein sichtbareres und effizienteres sicherheitsund verteidigungspolitisches Engagement der europäischen Staaten und der EU mit der Forderung, dass dieses nicht zu einer Duplizierung, Diskriminierung und Entkoppelung von den integrierten Militärstrukturen der Allianz führen dürfe. Diese Differenzen – dort: ESVI, hier: ESVP – wurden öffentlich ausgetragen und deuten die sich verändernde Rolle der USA in Europa an: Die integrationspolitischen Projekte der europäischen Staaten, die sich seit den 1970er Jahren auf eine Koordinierung der Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik beziehen, werden in ‚Washington' nicht mehr primär als ein Projekt zur politischen Konstitutionalisierung einer Friedensordnung in Europa verstanden. Vielmehr meinen die wechselnden US-amerikanischen Regierungen hierin eine Schwächung der NATO und eine Absage an ihre Rolle als ‚europäische Macht' zu erkennen. Zwar wäre es Vorschnell, in der ESVP konkrete Gegenmachtbildungstendenzen zu vermuten, die Metapher des ‚gespaltenen Westens' scheint hier aber durchaus angebracht. Während Habermas (2004) damit in erster Linie die Abkehr der Bush-Administration von einer Verrechtlichung internationaler Politik im Lichte des Irak-Krieges verstand, so zeigt die ESVPDiskussion die unterschiedlichen politischen Ziele, die mit einer eigenständigen Sicherheits und Verteidigungspolitik der EU-Staaten verbunden werden, d.h. eine Differenz der Diskurse und Praktiken, die womöglich zu einer dauerhaften Erosion der euro-atlantischen Gemeinschaft führen könnten. Während die britische, französische und deutsche Regierung in der ESVP ein Mittel sehen, der EU international mehr Geltung und Anerkennung zu verschaffen, reagierendie US-Amerikaner skeptisch. Die ESVP erscheint ihnen nicht als ein Schritt hin zu mehr Verrechtlichung, sondern als symbolischer Ausdruck europäischer Machtambitionen und eines Infragestellens (ihrer Sonderrolle in) der NATO.

Wie im Rahmen der ESVP Akteursmacht und Handlungsfähigkeit zueinander in Beziehung gesetzt werden, lässt weniger eindeutige Schlussfolgerungen über die Grenzziehung zwischen innen | außen zu, als dies bei der EVG der Fall ist. Zwar ist auch die ESVP ein Projekt, das nach innen integriert und formalisierte Praktiken der Kooperation und Koordination zwischen den EU-Mitgliedern etabliert und routinisiert. Gerade die Kontinuität gemeinsamer Diskuussionsund Arbeitsprozesse auf unterschiedlichen politischen Ebenen (z.B. Europäischer Rat, Rat, Kommission, Parlament der Europäischen Union, bilateral, Präsidentschaft) ist hier formgebend für eine Diskursund Praxisgemeinschaft. Zugleich ist das Außen, gegen das sich solch eine gemeinsame Politik abgrenzt, deutlich schwerer zu identifizieren. Diffuse Gefahren und Risiken verweisen auf einer erweiterten Sicherheitsbegriff, der Akteuren neue Handlungsmöglichkeiten bietet, zugleich aber auch kontinuierlich Anforderungen an ein gemeinsames politisches Handeln stellt. In Ansätzen zeigt sich bei der ESVP, dass abstrakte Risiken wie etwa Desintegration und Instabilität jenseits der EU als die wesentlichen sicherheitspolitischen Herausforderungen angesehen werden, denen man nur gemeinsam begegnen könne. Hiermit begründet sich die globale Rolle der EU als Sicherheitsakteur. Macht wird als strukturelle Eigenschaft sichtbar, die einem Akteur in seiner Fähigkeit, andere zu beeinflussen und, notfalls mit militärischen Mitteln, Normen und Interessen durchzusetzen, zugeschrieben wird. Insbesondere dieser Dualismus von Normen und Interessen erscheint interessant und in gewisser Weise spezifisch für die EU, wie die Debatte über ihre normative Macht verdeutlicht.

 
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