Mehr EUropa wagen? Ein Ausblick

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stand die Frage, wie es möglich ist, dass wir von der EU als einem globalen Sicherheitsakteur sprechen können. Möglich ist dies, weil Diskurse und Praktiken stets aufs Neue von Akteuren mobilisiert, vollzogen und aktualisiert werden, die eine Diskursund Praxisgemeinschaft stiften. Außenpolitik als Kultur richtet den Blick somit auf das Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken der Sinnerzeugung, die zur Herausbildung kollektiver Akteure beitragen. Stabilisierungen und Transformationen politischer Ordnung und Ordnungsbildung werden dadurch sichtbar.

Wie Diskurse und Praktiken auf kontingente Weise zusammenwirken, lässt sich somit aufzeigen: Symbolische Ordnungen und ihr praktischer Vollzug können sich zum einen gegenseitig verstärken und eine kulturelle Praxis der Sinndeutung erschaffen. Solch eine Konfiguration symbolischer Formen hat über Jahrzehnte hinweg in der Verbindung des nationalen Interesses und diplomatischer Praktiken seinen institutionalisierten Ausdruck gefunden. Mit der EVG und der ESVP wird jedoch deutlich, dass sich diese Formalisierung von Außenpolitik als Institution des Staates im Wandel befindet. Diskurse und Praktiken sind in Bewegung geraten, ohne bisher eine neue Ordnung gefunden zu haben. Praktiken des diplomatischen Austausches bestehen fort, Formen kollektiver, interund transgouvernementaler Außenpolitik entstehen neu.

Auf der gegenstandsbezogenen Ebene lässt sich festhalten, dass sich eine Diskursund Praxisgemeinschaft schrittweise von einem euro-atlantischen hin zu einem europäischen Schwerpunkt verschoben hat. Politische Großprojekte wie die Schaffung der ‚Vereinigten Staaten von Europa' und die ‚Verteidigung des Westens' waren für die frühen 1950er Jahre kennzeichnend und ermöglichten durch eine intergouvernementale Zusammenarbeit neue Institutionen und Organisationen wie etwa die EGKS und die NATO. Heute prägen vielmehr EUropäische governance-Strukturen den Möglichkeitshorizont von Diskursen und Praktiken, sodass europäische Außen-Politik auf formalisierten Regeln der Bedeutungsgenerierung und des praktischen Vollzugs basiert. Sicherheitsund verteidigungspolitische Inititativen der EUropäischen Staaten werden zwar weiterhin in Relation zur USA und der NATO diskutiert, eine plakative These der zunehmenden Gegenmachtbildung scheint jedoch überzogen. War für die EVG-Diskussion das langfristige Ziel einer politischen Konstitutionalisierung Europas im Sinne eines Bundesstaates oder Staatenbundes maßgeblich, so stellt sich die ESVP vielmehr als ein globales Anerkennungsprojekt in einer zunehmend multipolaren Weltordnung dar. Hier zeigt sich womöglich, dass selbst in einer zunehmend integrierten und weltgesellschaftlich organisierten Ordnung etatistische und machtpolitische Diskurse und Praktiken eine hohe Widerstandskraft gegenüber Verrechtlichungsund Zivilisierungsprozessen aufweisen.

Während die gegenstandsbezogene Rekonstruktion von Diskursen und Praktiken in dieser Arbeit sich auf die Frage nach der Herausbildung der EU als globaler Sicherheitsakteur konzentrierte, so hat der ‚practice turn' auch zum Ziel, materiell-körperlichen Praktiken, d.h. dem Umgang mit Artefakten und Objekten eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Im Rahmen der Actor-Network-Theorie findet dieses Thema besondere Beachtung (Belliger und Krieger 2006; Latour 2007). Als Aktanten handeln Objekte, etwa eine Bodenwelle, die einen Autofahrer dazu veranlasst, langsamer zu fahren, so eine zentrale These. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive, der es um die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, Macht, Herrschaft und Legitimität geht, sollte jedoch nicht allzu schnell materiellen Phänomenen erliegen. In dieser Arbeit habe ich die Hinwendung zu Praktiken vielmehr genutzt, um dem alltäglichen Umgang zwischen Politikerinnen und Diplomaten und den Vollzug von Bedeutungen in diesem Handeln beschreiben zu können. Denn schlussendlich bleibt die Frage entscheidend, wie Handelnde mit Objekten umgehen und diesen politische Bedeutung verleihen. Materialität steht nicht außerhalb der Kultur, sondern ist selbst Bestandteil einer kulturellen und kontingenten Praxis.

Ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm kann dazu beitragen, ein Vokabular für den kontinuierlichen Gestaltund Formwandel von Außenpolitik und internationaler Politik zu entwickeln, das eine hohe Sensitivität für Spannungen, Kontingenzen und Transformationen aufweist. Dies bietet sich insbesondere für solche Prozesse an, durch die neue Formen politischer Ordnung entstehen. Ein Verständnis für das Zusammenwirken von Diskursen und Praktiken hilft nämlich, Handeln dort in den Blick zu nehmen, wo kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden, um deren institutionelle Konsequenzen zu verstehen. Vor dem Hintergrund der agency-structure-Debatte stärkt es einen handlungstheoretischen Zugang, der danach fragt, wie aus Möglichkeiten Wirklichkeit wird, ohne die Strukturbedingungen solch einer kulturellen Praxis zu negieren. Ein bedeutungsorienteirter Kulturbegriff impliziert zugleich, dass Aushandlungsprozesse keinesfalls machtfreie Räume sind. Vielmehr treten hier die umstrittenen, widerstreitenden Diskurse und Praktiken hervor, die von Akteuren mobilisiert werden, sowie jene machtvollen Diskurse und Praktiken, die dazu beitragen, solche Bedeutungskonflikte zu überwinden.

Ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm trägt demnach zur Historisierung politischer Ordnungen bei, indem es den Prozess der Ordnungsbildung in den Mittelpunkt rückt. Transformationen erscheinen dann als ein Phänomen, das in erster Linie durch die kleinen Veränderungen geprägt ist. Politische Ordnungen sind Ergebnis des alltäglichen Zusammenwirkens von Diskursen und Praktiken, d.h. ‚what agents do'. Der Übergang in ein postwestfälisches System, die Herausbildung einer internationalen Gesellschaft oder gar einer global vernetzten Weltgesellschaft vollzieht sich nicht mit einem historischen Paukenschlag. Vielmehr ist auch hier eine kulturelle Praxis am Werk, deren Möglichkeiten in Wirklichkeit stets auf Neue übersetzen werden müssen. Die Realisierung dieser Wirklichkeit ist in dem Maße von Macht durchdrungen, wie Akteure in der Lage sind, bestimmte Diskurse und Praktiken zu hegemonialisieren, d.h. Notwendigkeiten zu schaffen und Kontingenzen unsichtbar zu machen.

Da politische Entscheidungen immer auch anders getroffen werden könnten, öffnet sich schließlich auch der Blick für normative und demokratietheoretische Fragen, die durch die sicherheitsund verteidigungspolitische Integration und Kooperation aufgeworfen werden. Wie lässt sich eine gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik jenseits des Nationalstaates legitimieren und demokratisch kontrollieren? Die Herausbildung des Nationalstaates hatte eine Antwort auf das drängende Problem der Kontrolle und Legitimierung von Gewalt durch die Monopolisierung gefunden. Nicht mehr private Söldner sollten für die Sicherheit der Bürger sorgen, sondern staatliche Sicherheitsinstitutionen wie die Polizei und das Militär, die heute der demokratisch-parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Mit der Transund Internationalisierung von Sicherheitsund Verteidigungspolitik wird diese Kontrolle jedoch zunehmend unterlaufen (Deitelhoff und Geis 2010; Wagner 2010). Dazu trägt wesentlich ein erweiterter Sicherheitsbegriff bei, der nicht nur Sachzwänge als Legitimationsgrundlage anführt, sondern auch zu einer Beschleunigung von Entscheidungsprozessen beiträgt, in denen Kritik immer weniger Gehör findet. Zwar gilt beispielsweise in Deutschland weiterhin ein Parlamentsvorbehalt bei der Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr; in anderen europäischen Staaten ist dies jedoch nicht der Fall (zur Übersicht: Peters und Wagner 2010). Die Mitbestimmungsregeln des Europäischen Parlaments finden in der ESVP keine Anwendung, zumal viele Beobachterinnen und Bürger Zweifel an der demokratischen Legitimität der EU selbst hegen.

Immer wieder auf die Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse zu verweisen, ist auch ein politisch-normativer Auftrag, wenn Wissenschaft einen kritischen Blick auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen werfen will. Die Aufgabe besteht dann weniger darin, bessere und effizientere Lösungen anzubieten, als vielmehr Handlungsalternativen und Möglichkeitsräume der Deliberation zu öffnen. Denn die Idee eines in Frieden und Gerechtigkeit geeinten Europas hat immer auch von diesem zuweilen naiven Glauben an die Veränderbarkeit politischer Ordnung gelebt. In einem Interview für die Wochenzeitung Die Zeit Anfang Januar 2014 brachte dies der holländische Architekt Rem Koolhaas passend auf den Punkt:

„Warum sollte man das Utopische der europäischen Idee nicht ab und zu wieder aufscheinen lassen? Das heißt ja nicht, dass man die Wirklichkeit ausblendet.“ [1]

  • [1] Pro Europa: Ein Plädoyer des Architekten Rem Koolhaas, in: Die Zeit, 12. Januar 2014.
 
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