Die Dimension Geschlecht in den Gesundheitswissenschaften – methodische und theoretische Grundlagen

„The factors that determine health and ill health are not the same for women and men. Gender interacts with biological differences and social factors. Women and men play different roles in different social contexts. [...] This affects the degree to which women and men have access to, and control over, the resources and decision-making needed to protect their health.“ (WHO, 2002, S. 3)

Die WHO verweist in ihrem Madrid Statement auf die zentrale Bedeutung von Geschlecht als einen wichtigen gesundheitlichen Einflussfaktor. Gesundheit und Krankheit – so die Kernaussage – sind nicht unabhängig von dem sozialen Kontext zu verstehen, in dem sie entstehen. Es seien stets die jeweiligen individuellen und strukturellen Voraussetzungen einzubeziehen, die den Gesundheitszustand von Frauen und Männern positiv oder negativ beeinflussen. Auf Basis der daraus resultierenden konzeptionellen Überlegungen wurde insbesondere eine Berücksichtigung der Geschlechterzugehörigkeit auf den Ebenen der Bedürfnisse (needs), der Gesundheitshindernisse (obstacles) sowie der Chancen (opportunities) eingefordert (WHO, 2002). Über ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des Statements sind – insbesondere durch die Neubesetzung der WHO Euro Direktion mit Dr. Zsuzsanna Jakab, die der Dimension Geschlecht eine zentrale Bedeutung zumisst – deutliche Fortschritte auf dem Gebiet der gesundheitsbezogenen Geschlechtergerechtigkeit zu verzeichnen. [1]

Keineswegs ist damit jedoch die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht per se als ein Qualitätsmerkmal gesundheitswissenschaftlicher Theorie und Praxis abgesichert. Vielmehr stellt Bolte (2008) fest, dass Verzerrungen, die auf einer fehlenden oder nicht angemessenen Berücksichtigung der Geschlechtsperspektive beruhen, weiterhin in zahlreichen epidemiologischen Studien zu finden sind. [2] Mittlerweile liegen jedoch einige Beiträge und Projekte vor, die sowohl methodische als auch konzeptionelle und theoretische Grundlagen zur Berücksichtigung von Geschlecht im methodischen Design einbeziehen. Zu erwähnen ist beispielsweise das Projekt „Epi goes Gender“, das sich in Form von wissenschaftlichen Studien und praktischen Workshops den Inhalten, Konzepten und Methoden geschlechtersensibler Forschung in der Epidemiologie widmet (Gansefort & Jahn, 2013). Impulsgebend sind darüber hinaus die Ausführungen von Doyal (2004) zur systematischen Durchführung einer gesundheitswissenschaftlichen Analyse von Frauenund Männergesundheit. Ihr zufolge sind fünf zentrale Aspekte zu beachten, denen in der systematischen Analyse von gesundheitsbezogenen Geschlechtsunterschieden insgesamt mehr Aufmerksamkeit gezollt werden sollte (vgl. Abb. 2):

Abbildung 2: Zentrale Aspekte der gesundheitswissenschaftlichen Analyse von Frauenund Männergesundheit. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Doyal, 2004)

Herausforderungen bestehen erstens darin, begriffliche Klarheit im Gebrauch der Bezeichnungen Sex und Gender zu schaffen. Im Vordergrund steht die Frage nach der Wirkung und den Zusammenhängen von Geschlecht und Gesundheit, die neben der biologischen Bedeutung ebenso die gesellschaftliche und kulturelle Herstellung von Geschlechtsrollen einschließt. Auf dieser Grundlage sind zweitens und drittens die Zusammenhänge zwischen biologischem Geschlecht und Gesundheit einerseits und sozialem Geschlecht und Gesundheit andererseits zu klären (ebd.).Die Notwendigkeit einer darauf aufbauenden Sexund Gendersensitiven Forschung bildet schließlich das vierte Kriterium zielgruppenspezifischer Gesundheitsforschung. Letztere Perspektive misst – im Hinblick auf die in der Einleitung genannten Merkmale von Public Health – der Entwicklung strategischer Überlegungen für ein breites Programm zum Abbau von Ungleichheiten eine hohe Relevanz bei und erfüllt damit als fünftes Kriterium die Anwendungsorientierung.

Mit Blick auf die Forschungsfrage nach den Entstehungsund Bewältigungsmustern von arbeitsbedingtem Stress bei Frauen und Männern eignen sich diese zentralen Aspekte als forschungsund anwendungsorientierte Agenda. Auf dieser Basis sollen nachfolgend vorerst zentrale Begriffe geklärt und die daraus resultierenden methodischen Handlungsoptionen für die eigene Forschungsfrage abgeleitet werden (Kapitel 2.1). Im Anschluss erfolgt eine Aufarbeitung zentraler Theorien aus der Geschlechterforschung (Kapitel 2.2), ehe die Bezüge zwischen theoretischen Implikationen und den Gesundheitswissenschaften hergestellt werden (Kapitel 2.3). Zum Ende des Kapitels wird in einem Zwischenfazit die Bedeutung der methodischen und theoretischen Grundlagen für die Forschungsfrage geklärt (Kapital 2.4).

  • [1] Beispielhaft sei auf das internationale „Gender, Women and Health Network“ (WHO, 2014) verwiesen, das sich den globalen Herausforderungen des Themenfeldes Geschlecht und Gesundheit widmet.
  • [2] Eine ausführliche Beschreibung möglicher Verzerrgrößen in der fehlenden bzw. fehlerhaften Interpretation von Geschlecht im Rahmen gesundheitswissenschaftlicher Forschung erfolgt in Kapitel 2.1.2.
 
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