Die Geschlechtsperspektive in den Gesundheitswissenschaften – allgemeine Relevanz und zukünftige Herausforderungen

Zur Übertragung der theoretischen Überlegungen auf den gesundheitswissenschaftlichen Kontext ist ein Blick auf die Public-Health-Relevanz der Geschlechtsperspektive erforderlich. Dies ermöglicht, Impulse für die Bearbeitung der Forschungsfrage nach der Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress in CCn aufzunehmen. [1]

Bei der Aufbereitung des Forschungsstandes fällt zunächst auf, dass die Integration des biologischen und sozialen Geschlechts als ein Merkmal zur Qualitätssicherung gesundheitswissenschaftlicher Forschung und Praxis gilt. Nach Jahn (2004, S. 18) verbessert die „angemessene Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht […] die Qualität und Effizienz in der gesundheitlichen Versorgung und korrespondiert somit mit Bemühungen der Qualitätsverbesserung, wie z. B. Zielgruppenorientierung, mehr Partizipation von Patientinnen und Patienten, Evidence Based Medicine etc.“. Gleichwohl kritisiert Phillips (2011), dass medizinische Studien zwar biologische Geschlechtsunterschiede feststellen, oftmals jedoch die verschiedenen sozialen Rollen und Erwartungen in einer Gesellschaft, die einen ebenso großen Einfluss auf den Gesundheitsstatus haben können, in der Analyse ausklammern oder gar von vornherein ignorieren. Im Ergebnis nehmen gesundheitsbezogene Strategien Frauen und Männer lediglich auf Grundlage individueller Verhaltensweisen in den Blick, ohne Geschlecht als soziale Strukturkategorie mit Blick auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu betrachten (ebd.). Demgegenüber problematisiert Moser (2010), dass durch die Kritik der feministischen Forschung an der rein biologischen Definition von Geschlecht und der darauffolgende Bezug zur sozialen Bedeutung dazu führte, dass die Auseinandersetzung mit Sex den Naturwissenschaften überlassen wurde (ebd.). In der internationalen Literatur wird demzufolge eine rege Diskussion in Bezug auf die Frage nach den Gründen für die mangelnde Integration von biologischen und sozialen Erklärungsmustern in der Forschung geführt. Zusammenfassend werden folgende drei Argumente diskutiert, die für eine fehlende oder nicht angemessene Berücksichtigung von Geschlecht bedeutend sind (Bird & Rieker, 2008; Springer et al., 2012; Greaves, 2012):

1. Dominanz eines biomedizinischen Modells von Gesundheit und Krankheit

2. Mangelnde Kommunikation verschiedener Disziplinen in Forschung und Praxis

3. Komplexität der Integration des biologischen und sozialen Geschlechts in die Gesundheitsforschung

Hahn (2008, S. 61) verweist darauf, dass „die Art und Weise, wie wir in westlichen Gesellschaften darüber entscheiden, was als gesund oder krank gilt, wie Krankheiten therapiert werden, bzw. wie wir unterschiedliche Krankheiten beschreiben, stark von einem biomedizinischen Modell von Krankheit beeinflusst [ist]“. Dieses fokussiert in der Analyse ausschließlich Faktoren, die sich aus organisch-biologischen Determinanten ergeben (ebd.). Laut Reimann (2006, S.24) bleiben jedoch Betrachtungsweisen der „ökologischen Suprasysteme“ – wie etwa die Bedeutung von Familie, Gesellschaft und Umwelt – ausgeschlossen. Aus diesen Faktoren ergäben sich Anforderungen, die als Belastung erlebt werden können und daher für den Gesundheitszustand von Frauen und Männern relevant seien (ebd.). Vor dem Hintergrund der Ausführungen der WHO zu Beginn des Kapitels erscheint diese Herausforderung zentral: Ohne einen Bezug zu sozialen Determinanten von Gesundheit sowie einer Berücksichtigung individueller und struktureller Voraussetzungen, die den Gesundheitszustand von Frauen und Männern positiv oder negativ beeinflussen, lassen sich keine geschlechtsrelevanten Faktoren in der Analyse von Gesundheit und Krankheit erfassen. Eine Orientierung daran ermöglichen die vorangestellten Ausführungen zu Geschlecht als Strukturkategorie (Kapitel 2.2.3). Hier hat sich gezeigt, dass Ungleichheiten in Bezug auf personelle und strukturelle Ressourcen wie Geld, Zeit und berufliche Positionen einen zentralen Analysefokus für die Beschreibung der Dimension Geschlecht bilden. Dass dieser Fokus auch international in die konzeptionellen und theoretischen Überlegungen der Gesundheitswissenschaften integriert wird, zeigen die Ausführungen von Lorber und Moore (2002). Sie kommen zu dem Schluss, „gender is embedded in the major social institutions of society, such as the economy, the family, politics, and the medical and legal systems, it has a major impact on how the women and men of different social groups are treated in all sectors of life, including health and illness, getting born and dying“ (ebd., S. 5). Auf dieser Grundlage ist im weiteren Verlauf der Studie zu prüfen, welche Rolle die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen für die Gesundheit von Frauen und Männern einnehmen.

Neben einer fehlenden bzw. fehlerhaften inhaltlichen Fokussierung verweisen Bird und Rieker (2008, S. 2) auf einen Mangel an Kommunikation und Zusammenarbeit („lack of communication and collaboration“) der verschiedenen Disziplinen als Ursache für die fehlende Berücksichtigung der Dimension Geschlecht. Hierbei sei eine Ignoranz und zum Teil gegenseitige Herabwürdigung biomedizinischer und soziologischer Forschung festzustellen. Gleichwohl stellen die Soziologinnen fest, dass sich innerhalb dieser Disziplinen in der Vergangenheit eine Vielzahl von Studien den sozio-ökonomischen Unterschieden im Gesundheitszustand von Frauen und Männern gewidmet hat. Insgesamt sei jedoch ein „level of specialization and intellectual parochialism“ (Bird & Rieker, 2008, S. 2) festzustellen, das dazu führe, dass bisher kein geeigneter Analyserahmen oder gar ein methodisches Instrumentarium vorhanden sei, um die Implikationen von Soziologie und Biomedizin gleichermaßen einbeziehen (ebd.).

Eine Erklärung für die mangelnde Integration von sozialem und biologischem Geschlecht in ein methodisches Design liefert Greaves (2012). So führe die gegenseitige Beeinflussung sozialer und biologischer Faktoren zu einer Komplexität des Forschungsdesigns. Beide Dimensionen seien eng miteinander verwoben und eher als Kontinuum denn als zwei voneinander getrennte Kategorien zu begreifen (Phillips, 2005). Einen richtungsweisenden Überblick bezüglich der Zusammenhänge von „genders, sexes, and health“ liefert Krieger (2003, S. 652), indem sie anhand von Fallbeispielen illustriert, wie das biologische und das soziale Geschlecht in unterschiedlicher Weise aufeinander wirken. Ihr zufolge ist es in epidemiologischen Studien erforderlich, das soziale und das biologische Geschlecht getrennt voneinander zu analysieren und mit Blick auf „gender relations, sex-linked biology, exposure, health outcome“ (ebd., S. 654) zugleich zu prüfen, welche Wirkzusammenhänge von Bedeutung sind. Beispielhaft nennt sie etwa die höhere HIV/AIDS-Prävalenz bedingt durch Verletzungen in Pflegeberufen, in denen aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsmarktsegregation vermehrt Frauen arbeiten (Gender wirkt auf Exposition und gesundheitliche Folgen). Darüber hinaus ergeben sich komplexe Bedingungsgefüge durch die soziale Interaktion, die sich z. B. bei Empfehlungen von Interventionen bei HerzKreislauf-Erkrankungen von Männern zeigen. Diese gehen zum einen auf männliche Darstellungsund Interpretationsweisen der Erkrankungen oder Beschwerden zurück (Gender wirkt auf Exposition und den Prozess der gesundheitlichen Folgen), sind aber ebenfalls von biologischen Determinanten geprägt, wie durch das Alter und die Genetik (Krieger, 2003). [2] Zur Erklärung von Geschlechtsunterschieden in der Darstellungsweise von Krankheitssymptomen oder Gesundheitsverhalten sind mit Blick auf den Stand der Forschung die Bezüge zu den theoretischen Implikationen des Doing-Gender-Konzepts zu prüfen (Kapitel 2.2.4). Anzunehmen ist, dass beispielsweise Männer zu einer anderen Darstellungsweise und Wahrnehmung von Belastungen oder gesundheitlichen Einschränkungen tendieren als Frauen. Bevor die gesundheitliche Lage von Frauen und Männern thematisiert wird, soll in einem Zwischenfazit der Beitrag der methodischen und theoretischen Implikationen für die Forschungsfrage expliziert werden.

  • [1] In diesem Abschnitt liegt der Schwerpunkt auf den Bezügen zwischen theoretischen Implikationen der Geschlechterforschung und ihrer allgemeinen Relevanz für die Gesundheitswissenschaften. Eine Darstellung empirischer Befunde zum Zusammenhang von Gesundheit und Geschlecht im Kontext der Forschungsfrage erfolgt in den Kapiteln 3.2, 3.3 und 4.4.
  • [2] Richtungsweisend sind darüber hinaus die Arbeiten von Sarah Payne, die die Interaktion von Sex und Gender am Beispiel des Lungenkrebses aufzeigt. Da dieses Kapitel lediglich auf Herausforderungen zur Integration von Geschlecht in die Gesundheitswissenschaften zielt, werden weitere Befunde im späteren Abschnitt zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede in Gesundheit und Krankheit erläutert (Kapitel 3.3).
 
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