Überblick zentraler Ansätze zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede in Gesundheit und Krankheit
In den Gesundheitswissenschaften werden verschiedene Modelle und Ansätze diskutiert, die die gesundheitsbezogenen Geschlechtsunterschiede erklären. Auffällig dabei ist, dass sowohl biologische als auch soziale und kulturelle Erklärungsansätze angeführt werden, die zum Teil nicht voneinander getrennt werden können. Zusammenfassend lassen sich folgende Faktoren bzw. Erklärungsansätze benennen, die bereits in Übersichtsartikeln thematisiert wurden (Verbrugge, 1990; Krieger, 2003; Payne, 2006; Annandale, 2009; Springer et. al., 2012; Kolip, 2012).
Ÿ Biologische Ursachen
Ÿ Geschlechtsrollenspezifische Aspekte
Ÿ Methodische Ursachen
Ÿ Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem
Ÿ Arbeitsund Lebensbedingungen
Diese Ansätze sollen nachfolgend skizziert werden, ehe das Erklärungsmodell Constrained Choice nach Bird und Rieker (2008) wegen seiner besonderen Relevanz für die Forschungsfrage näher erläutert wird.
Biologische Ursachen
In Kapitel 2 wurde bereits herausgearbeitet, dass in der Analyse von Geschlechtsunterschieden in Gesundheit und Krankheit sowohl biologische Faktoren als auch die soziale und kulturelle Dimension von Geschlecht zu berücksichtigen sind. Payne (2006) zufolge hat in der Vergangenheit diese Perspektive dazu geführt, dass die sozial-konstruierten Determinanten stärker in der Analyse von gesundheitlichen Unterschieden einbezogen wurden. Gleichwohl führt die Gesundheitswissenschaftlerin kritisch an, dass biologische Risiken zum Teil in den Hintergrund getreten sind (ebd.). Jedoch weisen die Mortalitätsunterschiede von Frauen und Männern darauf hin, dass biologische Erklärungsansätze eine wichtige Orientierung zur Beurteilung der Befunde bieten. So wird die geringere Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung u. a. auf eine höhere Säuglingssterblichkeit zurückgeführt (Statistisches Bundesamt, 2013f). In Bezug auf biologische Geschlechtsunterschiede benennt Verbrugge (1990) die Relevanz genetischer und hormoneller Faktoren, die offensichtlich auch als Erklärung für die erhöhte Säuglingssterblichkeit herangezogen werden können: Luy (2002) führt etwa genetische Geschlechtsunterschiede an, die weibliche Schutzeffekte begünstigen. So gehe der traditionell biologische Erklärungsansatz davon aus, dass das zusätzliche X-Chromosom der Frauen gegenüber Männern einen protektiven Einfluss auf das Immunsystem ausübt. Da Frauen biologisch bedingt über zwei Kopien dieser Gene verfügten, seien Männer aufgrund des kürzeren YChromosoms deutlich anfälliger für Erbkrankheiten (ebd.).
Bird und Rieker (1999) führen einen weiteren Aspekt an, der aus der Bedeutung reproduktiver Gesundheit resultiert. So gäbe es aus biologischer Perspektive keine Notwendigkeit für eine gleich stabile physiologische Konstitution zwischen den Geschlechtern. Die höhere Lebenserwartung bei Frauen sei auch eine Folge physischer Voraussetzungen, um Schwangerschaft und Geburt zu ermöglichen:
„Biological explanations of women's greater longevity emphasize the health advantages that accrue from the physiological systems which facilitate pregnancy and child birth.“ (ebd., S. 749)
Payne (2006) begründet die Unterschiede in der körperlichen Konstitution durch eine stärkere Immunreaktion von Frauen, die sie – aufgrund ihrer biologischen Fortpflanzungsfunktion – zum Schutz gegenüber Infektionen befähigt. Gleichwohl führt sie die Relevanz weiterer Erkrankungen an, die sich auf die Reproduktionsund Geschlechtsorgane beziehen:
„Women's health is affected by their capacity to conceive, not only in terms of the consequences for their health of pregnancy and childbirth, but also because they are at risk of disorders associated with reproductive organs – cancer of the ovary or breast […] or infections of the reproductive tract.“ (ebd., S. 23)
Die Rolle dieser Morbiditätsprofile wird auch vor dem Hintergrund der Statistiken der Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (GEKID) deutlich. So spiegeln sich Geschlechtsunterschiede in den Erkrankungen sowohl bei Frauen als auch bei Männern in dem Anteil der häufigsten Tumorlokalisationen wider. Neben dem hier angeführten Brustund Eierstockkrebs bei Frauen ist der Prostatakrebs bei Männern von Bedeutung (RKI & GEKID, 2012).
Obwohl biologische Faktoren – wie etwa die hier aufgezeigten genetischen und hormonellen Unterschiede – den Gesundheitszustand von Frauen und Männern maßgeblich beeinflussen, verweist Sieverding (2005) darauf, dass dadurch die Befunde nicht ausschließlich erklärt werden können. Vielmehr sei „gesellschaftlichen Gender-Konstrukten“ (ebd., S. 57) eine Schlüsselrolle in der Erklärung der Geschlechtsunterschiede in gesundheitsrelevantem Verhalten zuzusprechen. Aus diesem Grund soll nachfolgend die Bedeutung der Geschlechtsrolle für die gesundheitlichen Unterschiede näher erläutert werden.