Die Funktionen von Antisemitismus und Fremdenfeindschaft für die rechtsextreme Bewegung

Rainer Erb und Michael Kohlstruck

Volksfeindkonstruktion als essentieller Bestandteil des völkischen Denkens

Rechtsextreme Akteure stellen heute eine soziale Bewegung dar, die von der Forschung mit dem Instrumentarium der Bewegungsforschung untersucht wird (vgl. Bergmann 1994; Bergmann/Erb 1996; Hellmann/Koopmans 1998; Benthin 2004). Charakteristisch für die Form der sozialen Bewegung ist das breite Spektrum von Akteuren (Parteipolitiker auf Bundes-, Landesund Kommunalebene, Bewegungseliten, lokale Aktivisten und ein ansprechbares Umfeld) sowie ihrer Aktivitäten, die hohe Heterogenität ihrer Organisationsformen (Partei, Kameradschaften, lose Verbindungen, Infrastruktur aus Kneipenszene und Versandgeschäften) und die Vielfalt der Medien (Druckerzeugnisse, Internet, Musik), mit der sie sich als Teil der "nationalen Opposition" darstellen. Ungeachtet aller programmatischen und lebensweltlichen Querelen untereinander ist die gemeinsame Ideologie ein wichtiges Bindeglied. Jenseits der tagesaktuellen Entwicklungen wie der Konjunkturen der Wahlerfolge bildet sie dauerhaft das geistige Fundament des Rechtsextremismus. [1] Für die biologisch-völkische Weltanschauung ist das Volk die zentrale Bezugsgröße (vgl. Bott 1969; Schwagerl 1993: 101–161). Dieses wird holistisch, also als ein Ganzes verstanden, das gegenüber Einzelpersonen, Familien und gesellschaftlichen Gruppen den höheren Rang hat. Die höchste Würde wird dem Volk als solchem und ganzem, nicht dem einzelnen Individuum zugesprochen. Kurt Lenk hat deshalb zutreffend von einem mythischen "Übersubjekt" gesprochen (vgl. Lenk 1971: 35).

Einheit, Reinheit und Selbstbewusstsein des Volkes sind die maßgeblichen moralischen und politischen Werte: Die Fähigkeit, politisch und geschichtlich erfolgreich zu agieren, ist in der völkischen Sicht davon abhängig, dass sich ein Volk als eigenes, von anderen charakteristisch unterschiedenes Volk versteht und seine Identität schützt. Als wirkliche Volksangehörige gelten nur diejenigen, die sich neben ihrer objektiven Herkunft bewusst zu ihrem Volk bekennen und die mit dem Beitritt zur "volkstreuen Rechten" für ihr Volkstum kämpfen (vgl. Fischer 2007: 16).

Im heutigen deutschen Rechtsextremismus wird diese Einheit und Reinheit sowohl restriktiv biologistisch als auch kulturalistisch konzipiert (vgl. Backes/Jesse 1996: 59). Eigenart und Kultur eines Volkes werden aus seinem Erbgut, seiner Tradition und dem Bekenntnis der Volksangehörigen abgeleitet. Die moralische und politische Maxime von Selbsterhaltung und Selbststeigerung des Volkes bedeutet deshalb zunächst, den Bestand zu erhalten und vor fremden Einflüssen zu schützen. Der Kern des völkischen Denkens ist das biologische Ordnungsmodell mit der Idee eines Organismus, der sich vor fremden, mithin schädlichen Einflüssen schützt (vgl. Bott 1969: 84 ff.). Die Freund-Feind-Dichotomie ist damit ein Wesenselement der völkischrechtsextremen Denkwelt (vgl. Pörksen 2005: 94 ff.). Völkische Vorstellungen sind an konkrete Völker gebunden. Die Gemeinsamkeit von Franzosen, Deutschen oder Türken erschöpft sich darin, sich jeweils gegen den Fremden zu schützen. Austausch und Vermischung werden strikt abgelehnt, Kritiker dieser Konzeption gelten als Verräter. Der rechtsextreme Ideologe Jürgen Schwab stellt dies klar:

"Doch das völkische Denken ist ein unverzichtbarer Bestandteil nationaler Politik; wer dieses negiert, steht konsequenterweise im Widerspruch zum Nationalismus, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Denn die hier zu besprechenden Grundprinzipien einer nationalen Politik sind nicht nur für das deutsche, sondern für alle Völker gültig." (Schwab 2002: 152)

Im Vergleich zu den 1920er Jahren ist die hierarchisierende Bewertung von Völkern heute seltener zu finden. Nur gelegentlich trifft man auf kolonial-rassistische Aussagen, dominant ist der Abwehrrassismus. Charakteristisch für die Volksfeind-Ideologie ist die statische Kombination von "Volk" und "Raum": Jedes Volk hat legitimen Anspruch auf einen "natürlichen" Lebensraum, innerhalb dessen es seine Eigenart entfaltet, seine Reinheit pflegt und das Recht hat, fremde Völker auszuschließen. Seit Jahrzehnten wird diese aggressive Linie von "Unsere Nachrichten" (UN) verfolgt:

"Was soll das vielfache Gestammel von Humanität in Verbindung mit den Ausländern, zumeist Personen aus völlig fremden Kulturkreisen des nahen und fernen Orients oder Afrikas? Die Bundesrepublik ist ein Teil des Territoriums der Deutschen und nicht anderer Völker, egal ob Personen aus deren Mitte bei uns Arbeit oder als Wirtschaftsflüchtlinge Aufnahme suchen […]. Die Idee einer multikulturellen Gesellschaft […] ist ein ideologischer Wahn, wie die auf der Stammesgeschichte des Menschen basierende Biologie der Erkenntnis objektiv beweist." (aus UN 1991, zitiert nach. Frindte et al. 1994: 129 ff.)

Der Primat des Völkischen charakterisiert auch die Weltanschauung der NPD. Dieses Prinzip wird in immer neuen Varianten durchgespielt (vgl. Kohlstruck 2011). Ausdrücklich wird in der "Deutschen Stimme" (DS), der monatlich erscheinenden Zeitung der NPD, darauf hingewiesen, dass "die NPD in den neunziger Jahren ihr völkisches Profil schärfte und den Gastarbeitern, Asylanten und exklusiven Minderheitenvertretern in der BRD ›gute Heimreise‹ wünscht …" (Schwab 2000: 3). Nach seiner Wiederwahl zum Parteivorsitzenden im April 2009 hatte sich Udo Voigt gegen Abweichungen "von unserer nationalen und völkischen Weltanschauung" ausgesprochen (Voigt 2009: 2). Auch für Holger Apfel, der als Parteivorsitzender im November 2011 mit der Losung einer "seriösen Radikalität" angetreten war, blieb die NPD "eine von frischem Wind getragene nationalistische Anti-Globalisierungspartei", die an ihrer alten Weltanschauung festhält und lediglich ihr "Erscheinungsbild" kosmetisch aufbessern sollte (vgl. Apfel 2011: 3).

Unter Berufung auf den nationalsozialistischen Pädagogen Ernst Krieck heißt es in einer anderen Ausgabe der DS:

"Dein Lebensweg ist durch diese schicksalhafte völkische Verknüpfung vorgegeben. Dieser überpersönliche Standpunkt muss Ausgangspunkt und Ziel von Bildung sein. […] Alle müssten dem höheren Gemeinschaftssinn dadurch verpflichtet sein, dass sie mit den tieferen Sphären der Volksseele verbunden sind. Zum Volk wird ein Volk erst, wenn es von einer bestimmten Kraft durchgehend durchzogen ist, die ihm einen Stil verleiht. So hat jedes Volk seine eigene Gestalt, seinen eigenen Charakter. Diese Kraft strebt aus einem Volk hoch und versucht, den Nachwuchs zu gestalten […]." (Mayer 2006: 16)

Nichtdeutsche Migranten werden aus einem doppelten Grund zu einem Problem:

"Nicht nur für einen einheitlichen Volkscharakter […], sondern auch für die gesamte soziale Verfassung des Landes. Diese Menschen, so schreibt Krieck, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören und einen anderen Rassecharakter haben, werden sich einer vollkommenen Angleichung und Eingliederung durch Erziehung immer widersetzen. Sie widersetzen sich aber nicht nur der Integration, sondern sie versuchen zwangsläufig

– über ihren eigenen Rassecharakter getragen – die Kultur der Gastgeber zu beeinflussen. Das Ziel eines jeden Volkes, durch Erziehung und Fortpflanzung sich selbst zu erhalten, geht durch diese fremdgesteuerten Prozesse verloren." (Mayer 2006: 16)

In seinem "Plädoyer für einen deutschen Sonderweg" setzt Jürgen Schwab den vermeintlich mittelund osteuropäischen Nationskonzepten bewusst ein westeuropäisches gegenüber und begründet damit das "Recht auf ethnischen Selbsterhalt":

"Während die Idee des Volkes als Abstammungsgemeinschaft typisch deutsch, polnisch, serbisch und russisch ist, ist die Einwanderungsgesellschaft und der ›Rassismus‹-Vorwurf dagegen typisch westlich. Deshalb ist der Versuch, dieses Recht der Nation auf völkische

Ausschließlichkeit und die damit verbundene Forderung nach Ausländerrückführung zu kriminalisieren […] zurückzuweisen." (Schwab 2007: 236)

Die rassenideologische Grundlage ist deutlich zu identifizieren – auch wenn die Urheber das Wort "Rasse" ungern ausschreiben: "Es ist jedoch Fakt, dass auf dieser Erde verschiedene R… leben. Dies soll auch so bleiben, damit nicht die ganze Vielfalt in einer einzigen menschlichen R… aufgeht" (Fanzine "Der Foiersturm"; zitiert nach Gerdes 2008: 56).

Die völkische Ideologie versucht vom naturwissenschaftlichen Renommee der Biologie und der Anthropologie zu profitieren. Das so genannte "lebensrichtige Menschenbild", das die NPD für sich beansprucht, beruft sich auf einzelne Ergebnisse biologischer und verhaltenswissenschaftlicher Forschungen. Was für "Natur" gilt, soll auch für "Kultur" gelten. Geschichte und Gesellschaft werden damit so behandelt, als agierten hier Lurche und Larven und nicht Personen, Gruppen oder Institutionen. Der emotionale Wert dieser Ideologie ist hoch, ihr Erkenntniswert ist gering. Sie ist von ihrem ganzen Zuschnitt her eine Angstmobilisierungsideologie, das heißt ein System von Aussagen, bei dem der Akzent deutlich auf der Emotionalisierung und Mobilisierung von Anhängern liegt. Schlagworte dazu sind "Werteverfall", "Degeneration" oder "demografische Katastrophe" (vgl. Straßner 1987: 12–14; Pörksen 2005: 90).

In der tagespolitischen Auseinandersetzung wird diese weltanschauliche Grundlage nicht vollständig mit formuliert, die Publikationen und Redebeiträge beziehen sich schon vom Medium (Zeitung, Flugblatt, Wahlplakat) oder vom Anlass (politische Rede, Wahlkampf) her auf aktuelle politische oder gesellschaftliche Probleme. In grundsätzlichen Darstellungen aber sind diese Ideen breit ausgeführt.

Antisemitische und fremdenfeindliche Aussagen werden als Erklärungen von ganz unterschiedlich gelagerten Problemen verwendet. Die jeweils erstellten rechtsextremen Deutungsrahmen führen für viele Probleme "die Juden" oder "die Migranten" als zentrale Ursache an. Die dritte, hier nicht weiter behandelte Feindgruppe sind die "antideutschen Eliten" in Politik, Justiz und den Medien. Entsprechend sind auch die Bearbeitungsoder Lösungskonzepte der extremen Rechten auf diese beiden Bevölkerungsgruppen ausgerichtet. "Entfremdung, Entwurzelung, Ausländerströme, Multikultipolitik, Globalisierung, ›Werteverfall‹, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind nicht bloß das Ergebnis einer schlechten Politik der Herrschenden, sondern als ›Endlösung‹ der Deutschenfrage geplant" (Voigt 2003: 10).

Die "Globalisierungsvormacht USA" sei in mehrfacher Hinsicht "Verursacherin und Profiteurin der völkerzerstörenden Wanderungsbewegungen":

"Planvoll soll der Konkurrenzkontinent Europa durch fremdrassige Flüchtlingsmassen zersetzt werden, weil interventionsfähige Nationalstaaten gestaltend ins Räderwerk der Globalisierung greifen und ethnisch homogene Völker beträchtliche Gemeinschaftskräfte freisetzen können. Starke Nationalstaaten und intakte Völker sind natürliche Schutzräume und Solidarverbände, die den Globalkapitalisten im Weg stehen und deshalb ausgeschaltet werden sollen." (Gansel 2007: 20)

Diese Zitate verdeutlichen, dass für die völkische Weltanschauung neben den dargestellten zentralen Inhalten (Volk, Reinhaltung, Fremde als Feinde) auch bestimmte strukturelle Merkmale im Denkstil kennzeichnend sind: Die Weltanschauung operiert mit wenigen Unterscheidungen und ist in diesem Sinne nicht komplex, sondern simpel. Die Deutungen sind geschlossen, insofern sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf wenige Prinzipien reduzieren. Die Ideologie folgt einem intentionalistischen Grundverständnis, für das die Ursachen gesellschaftlicher Veränderungen ausschließlich auf den bewussten Willen handelnder Subjekte zurückgeführt werden. Für diese personalistische Sicht existieren schlechterdings keine strukturellen Entwicklungen, keine Zufälle oder nichtbeabsichtigte Folgen von Handlungsketten (vgl. Groh 1992). Ein weiteres Merkmal ist die Dynamik, die notwendigerweise mit dem absolut gesetzten Ideal des Volkes verbunden ist. Gemessen an unbedingten Zielen erscheint jede geschichtliche Wirklichkeit ungenügend. Entgrenzte Homogenitätsund Reinheitsforderungen sind die Folgen. Praktisch wird damit eine Eskalation in Gang gesetzt, die zur Definition von immer neuen äußeren Volksfeinden oder Verrätern in den eigenen Reihen führen muss. Die Phantasie der Säuberung ist maßlos. Mit einem Wort: Das "völkisch-monistische Weltbild" (Bott 1969: 23) kann die Wirklichkeit nicht angemessen verarbeiten, es kann aber beträchtlichen Terror ausüben, falls es von politischer Macht gestützt wird. [2]

  • [1] Die Begründung von Positionen in der völkischen Ideologie macht das Spezifi che von rechtsextremen Positionen aus. Diese Fundierung kann nur bei einer Minderheit der Bevölkerung beobachtet werden. Unterschlägt man die ideologische Rahmung der manifesten Aussagen, scheinen sie sich von manchen konservativen Auffassungen wenig zu unterscheiden – tatsächlich aber liegt die Ähnlichkeit nur im Auge des Betrachters (dies ist z. B. bei Häusler 2006 der Fall).
  • [2] Die limitierten kognitiven Kapazitäten dieser Weltanschauung korrespondieren mit den psychologischen Beobachtungen zur Rigidität im Denken (vgl. Scheuch/Klingemann 1967) und wissenssoziologischen Analysen zu Dogmatismus (vgl. Backes 1989: 301 ff.) bzw. Denkstil (vgl. Berger/Berger/ Kellner 1973).
 
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